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Phil-osophie am Freitag

Heute ist Freitag!
Das ist schonmal eine feine Sache.

Manchmal verbergen sich die schönsten Dinge hinter seltsamen Namen. Und damit meine ich nicht die zeitweise absurd erscheinende Neigung, seine Kinder nach Farben, Formen und Zeugungsorten zu benennen. Ich denke dabei an den „münzbetriebenen Phonographen“. Der wurde nämlich heute vor 123 Jahren erstmals in San Franciso in Betrieb genommen. Relativ rasch erhielt diese – in meinen Augen – bahnbrechende Erfindung, die einige Zeitgenossen als „das überflüssigste Ding der Welt“ bezeichneten den Spitznamen „Groschengrab“. Und warum? Weil jeder, wirklich jeder, der es einmal gesehen und gehört hatte, benutzen wollte. Dieser „münzbetriebene Phonograph“ war der Vorgänger der Musicbox und damit quasi die Mutter aller technischen Helferlein, die uns heute ermöglichen, nahezu jede Situation mit Musik zu unterlegen. Fast jeder hat einen „Soundtrack of life“. Eine Sammlung von Musikstücken, die wir bestimmten Situationen zuordnen. Musik spielt in so vielen Bereichen des Lebens eine Rolle, dass es uns manchmal gar nicht mehr auffällt.
In einer – zugegebenermaßen nicht repräsentativen – Umfrage in meinem Freundeskreis, welche Arten von „Playlists“ meine Freunde angelegt haben, wurde eines deutlich: Nicht nur hat jeder einen liebsten Titel, fast jeder hat auch situationsabhängige Zusammenstellungen. Von der „Trennungs-CD“ bis zur „Badewannenmusik“, von „Schmusi-Musi“ bis zum „Depri-Mix“, vom „Warm-Up“ zum „chillout“ findet sich für jeden Anlass das richtige. Ich selber verfüge allein über zwei Playlists nur fürs Autofahren. Eine für den Weg zur Arbeit und eine für die Reise in den Feierabend. Wir erinnern uns durch die richtige Zusammenstellung von Liedern an den schönen Urlaub, das erste gemeinsame Wochenende, unsere Abschlussfeiern und ganze Jahrzehnte.
In Nick Hornbys Klassiker „High Fidelity“ (Platz 3 meiner Top 10 Filme aller Zeiten, Platz 5 bei Büchern) fragt Rob Gordon in der Eingangsszene lapidar: „Hörte ich damals Popmusik, weil ich schlecht drauf war, oder war ich schlecht drauf, weil ich Popmusik hörte?“ Nun, tatsächlich ist es so, dass Musik Gefühle steuern kann. Nur so funktioniert ja der Effekt der Playlisten. Wir hören den Song, den wir zuletzt an einem Strand gehört haben und schwupp – fühlen wir den Sand zwischen den Zehen. Das funktioniert in beide Richtungen. Musik kann uns besänftigen oder aggressiv machen. Sie kann uns in Partystimmung oder in den Kuschelmodus versetzen. Musik kann sogar das Lernen unterstützen, indem sie die Gehirnströme synchronisiert. Und Musik spielt in fast jeder Beziehung eine Rolle. „Unser Lied“ ist vermutlich allen bekannt. Victor Hugo sagte.“ Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber Schweigen unmöglich ist“. Musik ist Gefühl.

In vielen Filmen reichen die ersten 2 Takte von Marvin Gayes „let`s get it on“ um zu verdeutlichen, dass die Handlung nun zunächst in der Horizontalen weitergeführt wird. Wenn im Soundtrack „Chelsea Dagger“ von den Fratellis läuft, ist sofort klar, dass der Protagonist gerade eine rauschende Gute-Laune-Phase erlebt. „Everybody`s gotta learn sometime“ von Beck steht für emotionale Zerissenheit und die große unerfüllte Liebe. Und es funktioniert. Soundtracks waren schon immer ein Trick, den die Filmindustrie rasch für sich nutzen wusste. Im Grunde emotionales 3D!
Und: Musik ist Leben. Musik spiegelt jede Facette eines Lebens wieder, von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt kann eine geschickte Aneinanderreihung von Noten alles widerspiegeln. Aber Musik kann mehr! Musik kann auch Gefühle von Trotz, Stolz und Motivation in uns auslösen. Und das ist genau der Punkt, den jeder für sich nutzen kann. Um das Ganze kurz ein bisschen wissenschaftlich anzuhauchen möchte ich einen kleinen Schwenk in die Verhaltenstherapie wagen. Auch wenn ich selbst eher in der Tiefenpsychologie verhaftet bin, hat mir das Konzept eines Dreiecks aus Gefühlen, Handlungen und Gedanken immer sehr zugesagt. Die Theorie dahinter geht – platt gesagt – so. Diese drei bilden uns ganz gut ab. Unser jetziges „Ich“ ist die Mischung aus unseren jetzigen Gefühlen, Handlungen und Gedanken. Nun lässt sich leider das ganze System durcheinanderwirbeln, wenn Gefühle oder Gedanken mal wieder in Richtung Sumpf ziehen. Aktiv beeinflussen können wir unsere Gedanken und unsere Handlungen. Am leichtesten natürlich die Handlungen: Es geht Ihnen mies? Jacke an und raus. Eine halbe Stunde um den Block und die Welt sieht – witzigerweise tatsächlich – meist schon ganz anders aus. Die Gedanken zu beeinflussen geht auch, setzt aber eine Menge Übung voraus. Gefühle aktiv zu beeinflussen geht eigentlich nur dadurch, dass wir die Gedanken oder die Handlungen modifizieren. Eine Handlung, die mit großer Sicherheit zur Beeinflussung des Gefühls führt ist der Griff ins Plattenregal, in die CD-Sammlung oder die Playlist des MP3-Players. Leider ist unser Geist, wie schon oft erwähnt, elendlich faul. Er wünscht sich in Depriphasen auch Deprimucke. Das ist ein zeitlang sehr angenehm, weil die Musik zu den Gedanken passt, wird aber nach einer gewissen Zeit zu einem perpetuum Mobile. Gedanken und –durch die Musik gesteuertes – Gefühl ziehen sich gegenseitig runter.

Nutzen Sie doch einmal die Musik als Transportmittel in die gute Laune! Und das können Sie noch unterstützen, indem Sie sich zur Musik bewegen und sich dadurch ganz in das „besungene“ Gefühl hineinbegeben. Mein Großvater war Tanzlehrer. Bis zu seinem Tod hat er mit meiner Großmutter jeden Morgen mit einem Tänzchen begonnen. Die beiden hatten eine beeindruckende Plattensammlung. Ich gebe zu, auch wenn mich das in den Augen einiger vermutlich abschließend als totalen Deppen dastehen lässt: Ich habe dies übernommen.
Jeden Morgen lege ich meine Playlist ein und „tanze mich warm“. Wenn die Zeit es erlaubt, schnappe ich mir meine Frau und tanze mit ihr im Wohnzimmer eine Runde „Knoten“ (das ist sozusagen ein Freestyle-Discofox). Das macht Laune und erfreut – wenn wie bei uns im Wohnzimmer keine Gardinen hängen – auch die Nachbarn. Probieren Sie es doch einfach mal! Ich verspreche Ihnen ein gutes Gefühl, dass Ihnen den ganzen Tag über nachläuft. Auf meiner Facebookseite (facebook.de/psholstein) habe ich vor einiger Zeit schonmal eine Playlist vorgeschlagen. Haben Sie passende Liedempfehlungen zum morgendlichen Bathroom-Step?
Ich würde mich freuen, wenn Sie diese auf meiner Seite hinterlassen. Wenn Sie nun sagen: “Ich bin aber gerade verlassen worden und nun überhaupt nicht in der Stimmung, fröhliche Musik zu hören“. Dann empfehle ich Ihnen „I will survive“ von Gloria Gaynor. Viele Lieder sind nämlich deshalb so passend, weil die Künstler sie geschrieben haben, als sie eine ähnliche Situation erlebten, wie die, in denen wir jetzt stecken. So sang Gloria Gaynor nicht „ich steck jetzt mal den Kopp in Sand“, sondern „as long as I know how to love I know I’ll stay alive; I’ve got all my life to live, I’ve got all my love to give And I’ll survive! Now I’m savin‘ all my lovin‘ for someone who’s lovin‘ me“ – also: Kopf hoch, Musik an und mitgetanzt.

Ich wünsche ein sauschönes Wochenende und tanze mich schonmal warm.

Ihr Philipp S. Holstein

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Das Buch zur Kolumne, die Kolumne zum Buch
Glücklich werden ohne Ratgeber – Ein Ratgeber

Unser Kolumnist Dr. Phil ist auch bekannt als Autor Philipp S. Holstein und hat das Buch “Glücklich werden ohne Ratgeber. Ein Ratgeber” geschrieben.

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