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Phil-osophie am Samstag

Heute ist Samstag. Das ist schon mal eine feine Sache!

Eine interessante Zuschrift erreichte mich Anfang der Woche. Eine Leserin aus Norddeutschland schrieb: „Mit mir selbst komme ich mittlerweile ganz gut klar. Was mich nervt, sind die Anderen“. Ich war gerade aus einem vollbesetzten Einkaufszentrum gekommen und hatte mich schon gefragt, ob wieder mal ein Weltuntergang oder ein Embargo angekündigt wurde, ohne dass ich es gemerkt hatte. Um es kurz zu machen: ich konnte die Dame sehr gut verstehen. Da will man einmal schnell ein paar Einkäufe erledigen – und dann das: überall Menschen!
Und zwar diese Art von Personen, denen an der Kasse auffällt, dass die Gurken nicht gewogen oder das Waschmittel in der falschen Größe gewählt wurde. Oder sie haben es „passend“. Tatsächlich können „Menschen“ – vor Allem in großen Gruppen oder in für unser eigenes Leben relevanten Positionen, einem den Tag ganz schön schwer machen. Das kann der Chef sein, der jeden Dienstag und Donnerstag seine Meinung ändert, oder der Partner, der doch irgendwie ein wenig andere Vorstellungen von der perfekten Wochenendgestaltung hat. Solange wir „gut drauf“ sind, stellen Kompromisse normalerweise kein Problem dar. Wenn die Dinge nicht so rund laufen, können solche „Eigentümlichkeiten“ Anderer uns allerdings ganz schön auf die Palme bringen. Was das Ganze noch erheblich erschwert ist die zunehmende Schnelllebigkeit. Das ist übrigens ein Wort, das mir nicht gefällt. Erstens weil es so nichtssagend ist, zweitens wegen der drei L. Ich glaube, dass es früher einfacher war, „warm“ miteinander zu werden. Heutzutage entscheiden wir ja meistens doch ziemlich schnell, ob unser gegenüber „gut“ oder „böse“ ist. Dasselbe gilt übrigens für Partnerschaften.
Eine Bekannte von mir teilt auf Facebook das Bild eines wirklich alt aussehenden Paares, welches den Text „Wir sind 50 Jahre verheiratet – wir kommen aus einer Zeit, in der Dinge repariert wurden, anstatt sie wegzuwerfen“ steht. Gleichzeitig speeddatet sie regelmäßig junge Männer, die sie nach 5 Minuten aussortiert, weil sie die falsche Musik hören, FDP wählen, oder Fleisch essen. Ich vermute, dass die Toleranz, die eigentlich ständig als das wichtigste im (Zusammen-)Leben beschworen wird, in Wirklichkeit stetig abnimmt. Dabei ist es doch eigentlich gerade schön, sich einmal mit etwas anderem auseinanderzusetzen. Nicht nur im „eigenen Saft“ zu braten. Natürlich sagt das alte Sprichwort „Gleich und gleich gesellt sich gern“. Aber ist das nicht auch furchtbar langweilig?
Einer meiner ältesten Freunde und ich streiten eigentlich immer. Oder besser gesagt: Wir diskutieren. Über Politik, Musik, Ernährungsgewohnheiten, den Nahostkonflikt, die Steigerung der Rohölpreise oder Literatur. Manchmal auch einfach darüber, ob es erst das Fleisch, oder das Gemüse gebraten wird, oder ob „Delta Force“ mit Chuck Norris der beste, oder der schlechteste Film aller Zeiten ist. Es ist übrigens der schlechteste Film aller Zeiten. Das macht ihn so fantastisch, dass man ihn einmal im Jahr sehen sollte. Das ist anstrengend, aber auch schön. Jeder von uns weiß genau, wo der andere steht und dementsprechend auch, wo wir Unterschlupf in stürmischen Zeiten finden. Man sollte sich wünschen, dass andere tolerant gegenüber unseren eigenen Macken sind. Und die Wahrscheinlichkeit, dass wir diese Toleranz bekommen steigt, wenn wir selber nachsichtig sind.

Goethe schrieb dazu „Alte Freundschaften haben den neuen hauptsächlich voraus, dass man sich einander schon viel verziehen hat.“ Da hat er mal wieder Recht. Der alte Goethe. Also versuchen Sie doch mal, Ihrem Gegenüber die Chance zu geben, Ihnen einiges zu verzeihen. Und andersrum. Und an meine Bekannte gerichtet: Na und, dann isst er halt Fleisch. Du wirst nie erfahren, ob er es für Dich aufgegeben hätte. Ob Du ihn vielleicht sogar von Deiner Ansicht überzeugt hättest. Du wirst nie feststellen, ob Du in 40 Jahren lachend seine Hand gehalten hättest, während Du sagst „und am Anfang wäre es fast an einem Schnitzel gescheitert“. Vielleicht könntest Du auch sagen „Jedem Tierchen sein Pläsierchen“ und einfach lächelnd darüber hinweg sehen, dass er ab und an mit seinen Kumpels totes Tier an offenem Feuer und dazu ein Bier aus der Büchse braucht. Menschen sind das, was wir in Ihnen sehen. Vielleicht hatte der ältere Herr, der an der Kasse ewig brauchte, und immer nervöser wurde, eine richtig miese Zeit hinter sich. Und vielleicht kann ein einfaches Lächeln und ein kurzes freundliches Wort die Situation für alle angenehmer machen. Probieren Sie es aus. Ein Lächeln kostet nichts und ist doch unglaublich wertvoll. So läuft das Leben. Schon Sophia Loren sagte „Ganz man selbst zu sein, erfordert einiges an Mut“. Respektieren Sie die anderen für Ihren Mut. Denn wenn wir ehrlich sind, haben wir alle nicht mehr anzubieten, als uns selbst. Mit all unseren Macken und Eigenheiten. Und sie kennen ja bereits eines meiner liebsten Zitate von der großartigen Pearl S. Buck: „Große Tugenden machen einen Menschen bewundernswert. Aber die kleinen Fehler machen ihn liebenswert.“ Ich möchte lieber liebenswert sein. Und Sie?

Philipp S. Holstein
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Unser Kolumnist Dr. Phil ist auch bekannt als Autor Philipp S. Holstein und hat das Buch “Glücklich werden ohne Ratgeber. Ein Ratgeber” geschrieben.

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