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Krisenerfahrung – meine Ressource im Beruf

Foto: Nora Fieling

„Aber Du bist doch noch so jung. Du hast das ganze Leben noch vor Dir, musst noch knapp 40 Jahre arbeiten – wie lange willst Du eigentlich noch vom Amt leben?“

Ich bin Nora, 34 Jahre alt und von 2009 bis 2018 befand ich mich nur für zwei Jahre in einem festen Arbeitsverhältnis. In den anderen Jahren war ich entweder arbeitsunfähig und in Tageskliniken oder aber ich war arbeitslos gemeldet und lebte vom Arbeitslosengeld oder von Hartz IV.

Ursprünglich wollte ich Sozialarbeiterin werden, musste das Studium jedoch aufgrund von Depressionen und Panikattacken abbrechen. Vor diesem hatte ich zwar eine Ausbildung zur Bürokauffrau absolviert, aber das auch eher so mit Ach und Krach – es war nicht mein Traumberuf und ich habe diese eigentlich nur angefangen, um überhaupt irgendeine Ausbildung zu machen.

Aus diesem Grund hielt sich meine Motivation sehr in Grenzen, in diesem Bereich eine neue Arbeitsstelle zu finden. Da ich aber nicht zu Hause hocken wollte und dachte, dass ich arbeiten gehen MUSS, um ja nicht als „faul“ oder „asozial“ abgestempelt zu werden, suchte ich mir Jobs in diversen CallCentern. Nicht die beste Idee, wenn man mit Stress und vielen Sinneseindrücken nicht sonderlich gut umgehen kann.

Es kam wie es kommen musste – ich rutschte in eine depressive Krise mit Panikattacken und fand mich einige Wochen später in einer Tagesklinik wieder. Dies war im Sommer 2014.

Was und wohin möchte ich eigentlich?

Die Antwort auf diese Frage könnte Seiten füllen. Seiten voller erschlagender Leere.
Die damalige Krise zwang mich erneut, mich und mein Leben zu hinterfragen. Was läuft schief bei mir? Was sollte ich ändern? Was schadet mir in meinem Leben?

Zusammen mit der Therapeutin der Klinik kam ich zu dem Entschluss, dass die Arbeit im CallCenter nicht zu mir passt und meine Genesung behindert. So stand ich dann da – ohne Arbeit und ohne jegliche Perspektive.

Eine zeitlang war ich noch arbeitsunfähig und lebte vom Krankengeld. Als dieses auslief, hatte ich noch ein paar Monate Anspruch auf Arbeitslosengeld und schon wenige Monate später saß ich beim JobCenter und beantragte Hartz IV. Mal wieder.

„Irgendwann musste aber mal was machen oder wie lange willst Du noch vom Amt leben?“

Ja, es gab schon so richtig unterstützende Aussagen, die mir weiterhalfen. Nicht.
Natürlich ist es alles andere als toll, wenn man vom Arbeitsamt oder vom JobCenter leben muss. Das ist nichts, worauf ich stolz bin und es ist nichts, was ich in meinem Leben mag. Jedoch ist es inzwischen für mich aber auch nicht mehr so schlimm, als das ich deswegen jeden x-beliebigen Job annehmen würde.

Diese Erfahrung hatte ich davor die Jahre schon gemacht – Hauptsache, ich hatte schließlich eine Arbeitsstelle. Ganz egal, ob die mir Freude bereitet oder gut tut. Wichtig ist, dass ich eine Arbeit habe – erst dann bin ich schließlich vollwertiges Mitglied unserer Gesellschaft.

Diese Denkweise hat mir geschadet, so sehr, dass ich eben 2014 depressiv, verzweifelt und suizidal bei meinem Psychiater saß und dieser für mich bei der Tagesklinik nach einem Aufnahmetermin fragte.
Nein, nein, DAS wollte ich nicht nochmal erleben.

Viele Wege führen nach Rom.

Wer sagt, dass ich nach Rom möchte?
Die letzten vier Jahre ist laut meinem beruflichen Werdegang nichts passiert. Tatsächlich ist jedoch das komplette Gegenteil von Nichts passiert.

Ich habe sehr viel gelernt, vor allem über mich selbst und meine Geschichte. Viele Puzzleteile fügten sich zusammen und ich habe durchaus verstanden, wieso, weshalb, warum ich mich so entwickelt habe, wie ich es nun mal tat.

Inmitten einer Krise, wo alles schwarz, dunkel und trostlos ist, siehst Du keine Wege. Erst Recht keine Auswege. Andere gaben mir Empfehlungen oder machten es noch direkter und schrieben mir vor, was ich denn wie machen sollte … mein Psychiater und meine Therapeutin haben mich ermutigt (bzw. tun es immer noch), mir die Zeit zu nehmen und auf mich und mein Bauchgefühl zu hören.

Mein Partner und ein paar liebe Menschen aus meinem Umfeld haben mich in meinen Schritten unterstützt und mir die Zeit gelassen, die ich brauchte. Dadurch fand ich immer mehr zu mir und in mir die Kraft, fürs Leben.

Durch Ehrenämter (u.a. Peer-Beratung bei der Deutschen Depressionsliga, Mit-Referentin vor Studenten der Sozialen Arbeit und dem Schreiben meines Blogs, konnte ich (und kann ich immer noch) meine Zeit sinnvoll nutzen. Zudem fand ich eine berufliche Perspektive.

Neben einer beruflichen Perspektive fand ich vor allem mich. Mich und MEIN Leben.

Seit Juni 2018 bin ich weg vom Amt und verdiene wieder mein eigenes Geld – in der Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfe (KIS) Pankow. Diese befindet sich im Stadtteilzentrum Pankow.

Seit ca. 3 Jahren bin ich dort ehrenamtlich als eine der Gastgeberinnen im Offenen Treff für Angst und Depression aktiv. Der sogenannte OT funktioniert wie eine „normale“ Selbsthilfegruppe und ist vor allem für Gruppen-Interessierte bzw. -Neulinge eine gute Anlaufstelle, um ganz ungezwungen für sich auszuprobieren, ob das Konzept Selbsthilfegruppen etwas für einen ist oder nicht.

Meine ehrenamtliche Tätigkeit bleibt weiterhin ehrenamtlich, doch zusätzlich unterstütze ich das Team im Bereich der Selbsthilfe, Öffentlichkeitsarbeit und Beratung.

Das Besondere an dem Ganzen ist, dass ich dort als Erfahrungsexpertin wirken darf. Ja, richtig gelesen, das ist die Berufsbezeichnung – ERFAHRUNGSEXPERTIN.

Wir alle sind die Experten für unsere Erfahrungen und unsere Krisen. Wir alle haben ein Erfahrungswissen, welches man nicht aus Büchern lernen kann und welches dennoch sehr wertvoll ist.

Wir merken das in den On- und Offline-Gruppen, wenn wir uns miteinander austauschen. Und oftmals sind es ja auch in Kliniken die Gespräche mit den anderen Patienten, welche einem selbst überraschend gut tun.

Mein Erfahrungswissen teile ich schon länger in verschiedenen Projekten online wie offline mit anderen Betroffenen, Angehörigen als auch Fachpersonal. So arbeite ich z. B. zusammen mit meiner Freundin und Kollegin Annegret Corsing, Gründerin von die erfahrungsexperten.

Wir geben zusammen Resilienz-Trainings zur Überbrückung von Therapiewartezeiten. Die psychische Resilienz ist unsere psychische Widerstandsfähigkeit, die uns dazu befähigt, mit uns selbst als auch unseren Krisen besser umzugehen. Der Resilienz-Workshop dauert zehn Wochen und ist inzwischen sogar kassenzertifiziert.

Zudem begann im Mai 2018 meine einjährige Ex-In-Fortbildung, welche sich konkret an Psychiatrie- und Krisenerfahrene richtet. In dieser Ausbildung wird das eigene Erfahrungswissen reflektiert, wobei der Fokus besonders auf den eigenen Ressourcen und den unterstützenden Genesungsfaktoren liegt.

Krisenerfahrung – (m)eine berufliche Qualifikation

Mein eigener Bereich in der KIS ist die Peer-Beratung. Der Begriff „Peer-Beratung“ bedeutet, dass Menschen aus gleichen Situationen einander beraten – man findet dies häufig im Suchtbereich, wo trockene oder cleane Menschen andere Suchtkranke unterstützen. Oder bei der Organisation U25 beraten Jugendliche und junge Erwachsene, andere Jugendliche/Erwachsene – unter 25 Jahren.

Und bei mir ist es eben so, dass ich mit meiner Krisenerfahrung andere Menschen in Krisen berate bzw. unterstütze. Dies ist kein Ersatz für eine Therapie, sondern eine Ergänzung. Zum Beispiel biete ich Gespräche für Erkrankte und deren Angehörige an, informiere über die Krankheitsbilder mit denen ich selbst Erfahrung habe und kläre über die kassenfinanzierten Therapie-Möglichkeiten auf.

Zudem unterstütze ich andere bei der Therapeutensuche – dies ist mir ein besonderes Anliegen, da ich es in meinen depressiven Krisen aufgrund der Symptomatik selbst nicht schaffen konnte, zeitnah einen Weg zum fachlichen Hilfesystem zu finden.

Und natürlich informiere ich Ratsuchende auch über die Möglichkeiten von Selbsthilfegruppen und vermittle in diese.

In Deutschland haben wir zwar ein ziemlich gut ausgebautes Sozialsystem mit vielen Möglichkeiten der (psychosozialen) Beratung. Was jedoch in diesem Netzwerk fehlt, sind Menschen, die im Sinne der Partizipatipationslehre ihr Erfahrungswissen weitergeben.

Ich bin überzeugt davon, dass alle zusammen (Betroffene, Angehörige und Fachpersonal, wie Ärzte, Therapeuten, Sozialarbeiter, Beratungsstellen) sehr viel bewegen können und dass daher jeder mit seinem Wissen und seinen Erfahrungen „am Tisch“ sitzen sollte.

Nur gemeinsam können wir Erkrankten auf Augenhöhe begegnen und mehr Akzeptanz, Verständnis und Entstigmatisierung erreichen.

Es war Donnerstag, der 20.03.2014, als ich nicht zur Arbeit konnte und mich krank meldete. Verzweifelt, hoffnungslos und suizidal.
Es war Donnerstag, der 03.05.2018, als ich den ersten Tag der Ex-In-Ausbildung absolviert habe und einen Schritt Richtung berufliche Zukunft setzte.

… Ja, es kam tatsächlich die Zeit, in der die Depressionen und Panikattacken in einen längeren, tiefen Schlaf verfielen und mein ICH den Weg ins Leben fand …

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