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Wie Medien zur Entstigmatisierung von Suizid beitragen können

Foto: Vlada Karpovich von Pexels

Linda M. Braun (30) arbeitet seit fast 10 Jahren als Gesundheits- und Krankenpflegerin mit psychisch erkrankten Erwachsenen zusammen. Seit mehr als 2 Jahren ist sie in einer Klinik tätig und unterstützt psychisch erkrankten Menschen, welche eine stationäre Behandlungsbedürftigkeit aufweisen und diese Behandlung individuell zu Hause erhalten sollen. Im Rahmen ihres Bachelorstudiums hat sie sich viel mit den Themen Suizid und Medien auseinandergesetzt und macht nun auf das Entstigmatisierungspotential aufmerksam.

Welche Aufgabe kommt den Medien beim Thema Suizid bzw. generell psychischer Erkrankung zu?

Die Medien haben heutzutage die Aufgabe, Informationen bereitzustellen, ihre Rezipient:innen zu unterhalten und diese ebenso aufzuklären. Insbesondere das Thema Gesundheit rückt seit der Coronapandemie mehr und mehr in den Fokus und die Wichtigkeit der psychischen Gesundheit erhält mehr allgemeine Aufmerksamkeit.

Über die Tabuthemen psychische Erkrankung und Suizid wird immer wieder medial berichtet, sei es im Rahmen von Statistiken, Betroffeneninterviews oder auch einer bekannten Person, welche sich öffentlich zu ihrer Erkrankung äußert.

Auch innerhalb von Filmen oder Serien findet das Thema Einzug und erhält mediale Aufmerksamkeit – jedoch ist es weiterhin schambehaftet, wird teilweise hinter vorgehaltener Hand angesprochen und sich in einer Krise zu befinden oder sogar unter einer teils schwerwiegenden psychischen Erkrankung zu leiden, wird häufig immer noch totgeschwiegen.

Wie berichten Medien über ebendiese Themen?

Meiner Meinung nach gibt es hierbei große Unterschiede. Innerhalb Deutschlands werden Suizide in Filmen erwähnt, angedeutet und dargestellt und in Printmedien finden sich wöchentliche Berichte zu prominenten Personen, die psychisch erkrankt sind, suizidal seien oder sich suizidiert haben. Manche Zeitungen oder auch Filminhalte berichten regelrecht milde, mit Fakten versehen und vorsichtig über Suizid und psychische Erkrankung.

Es lassen sich jedoch auch ebenso viele Negativbeispiele finden, in welchen psychisch erkrankte Personen stigmatisiert werden, deren „Abnormalität“ und der Unterschied zum Rest der Gesellschaft in den Fokus gerückt und negative Aufmerksamkeit generiert wird.

Das Erschreckende für mich ist hierbei, dass es seit 1997 bestehende Empfehlungen innerhalb des Pressekodexes des Deutschen Presserates für Berichte über Suizide gibt, diese jedoch keine bindende Wirkung für die Medien haben. Ebendiese Empfehlungen sind für Journalist:innen und jede interessierte Person öffentlich zugänglich im Internet zu finden und auch Freunde fürs Leben verweist auf ihrer Internetseite öffentlich darauf.

Welche Vorteile und welche Risiken bringt die Berichterstattung mit sich?

Durch die Berichterstattung über diese zwei weiterhin tabuisierten Themen wird fortlaufend Aufmerksamkeit generiert und gezeigt, welche Wichtigkeit ebendiese in unserer heutigen von Schnelllebigkeit geprägten Gesellschaft besitzen.

Es finden einerseits die präventiven Faktoren Einzug, sei es in Form von genereller Aufklärung über die Themen, dem Bericht über Warnsignale oder Risikofaktoren oder dem Hinweis auf bestehende Hilfsmöglichkeiten (inzwischen unter nahezu jedem Bericht über ebendiese Themen zu finden) für Betroffene und Angehörige.

Risikoreich ist beispielsweise der detaillierte Bericht über das Thema Suizid mit Nennung der Suizidmethode oder dem Ort des Geschehens. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang der sogenannte „Werther-Effekt“, benannt nach dem bekannten Protagonisten und Namenspatron des berühmten Romans von Goethe. In den 1970ern konnte ein Zusammenhang zwischen ansteigenden Suizidraten der Population nach der Berichterstattung über einen Suizid auf der Titelseite der New York Times beschrieben werden.

Dem gegenüberzustellen ist der suizidpräventive Begriff des „Papageno-Effekts“, welcher nach der Figur Papageno aus der Oper „Die Zauberflöte“ benannt wurde. Der vulnerable Papageno wird trotz bereits getroffener Suizidvorbereitungen vom Suizid abgehalten und es kann protektiv auf ihn eingewirkt werden.

Im Jahr 2010 erforschte der Suizidologe T. Niederkrotenthaler den Effekt innerhalb einer Studie und belegte, dass Berichte über die förderliche Bewältigung einer Krisensituation, angemessene Filmdarstellungen und edukative, wie auch präventive Internetseiten eine suizidprotektive Wirkung haben.

Meiner Meinung nach wiegen sich Vorteile und Risiken nahezu auf und das Auge des Betrachters entscheidet in Sekunden, ob der vorliegende Bericht angemessen, eventuell sogar präventiv oder riskant ist.

Wie sollten Medien über Suizid berichten?

Die Medien müssen sich nicht nur über ihre Rolle als Informationsgeber und Unterhaltungsmedium gleichzeitig bewusst sein, sondern auch die Relevanz zum Schaffen eines Bewusstseins für die stigmatisierte Thematik muss gefördert werden.

Die bedeutende Rolle über eine angemessene Berichterstattung entscheidet gleichermaßen über die Haltung der Gesellschaft zu Themen wie psychische Erkrankung oder Suizid. Die Berichterstattung ist notwendig, keine Frage, jedoch soll sie angepasst sein an vulnerable Rezipient:innengruppen, das wahre Gesicht einer psychischen Erkrankung nicht verzerren und auch den Angehörigen eines Suizidenten bzw. einer Suizidentin Respekt gegenüber wahren.

Eine sensible Berichterstattung ist aufgrund der protektiven und präventiven Wirkung notwendig und Berichte über Suizide auf Titelseiten oder die Veröffentlichung eventueller Abschiedsbriefe, kann zu einer idealisierenden und romantisierenden Darstellung dessen führen.

Wichtig ist es, diese vulnerablen und teils mit Stigmata behafteten Themen öffentlich zu kommunizieren – natürlich mit der nötigen Ernsthaftigkeit und weniger mit aufmerksamkeitserregenden Headlines.

Welche Form der Berichterstattung wünscht du dir über psychische Erkrankungen?

Die Form der Berichterstattung entscheidet darüber, wie die Augen der Gesellschaft psychische Erkrankungen und Suizid wahrnehmen. Beispielsweise zeigt die jährliche Veröffentlichung der Suizidstatistik 2019, dass sich schätzungsweise alle 58 Minuten ein Mensch in Deutschland das Leben nimmt, alle 5 Minuten ein Suizidversuch stattfindet und alle 9 Minuten jemand eine nahestehende Person durch einen Suizid verliert.

Diese Zahlen lassen frei zugänglich im Internet finden, doch (mediale) Aufmerksamkeit erhalten sie im Alltag kaum.

Ich wünsche mir, dass – vielleicht auch durch Corona – das Thema psychische Gesundheit in den Fokus der Gesellschaft rückt und dort nachhaltig verbleibt. Dass verrückt sein nichts negativ konnotiertes ist, sondern dass alle Facetten einer Person menschlich sind und darüber neutral berichtet wird.

Dass nicht nur Krankheit und die Frage „Wie werde ich gesund, wenn…?“ in unseren Köpfen schwebt, sondern wir uns stattdessen fragen, was gesund hält, was uns Freude macht und gleichermaßen gut tut und welchen Stellenwert Prävention von Stress und Erkrankung in unserer aller Leben haben muss.

Ich wünsche mir, dass viel mehr Menschen tolle Vereine wie Freunde fürs Leben kennenlernen, diese aktiv fördern und unterstützen, öffentlich mediale Aufmerksamkeit generiert wird und der Fokus noch mehr auf Prävention und Protektion gerichtet wird.

Ich hoffe, die Medien und wir alle können Tabuisierten und Stigmatisierten den Raum bieten, den sie verdienen und damit eine konstruktive Plattform zur Protektion und Prävention schaffen – denn Schweigen bringt uns alle nicht weiter.

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