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Sei pazzo? Meine Wanderung nach Rom

Foto: 鑫-王 via Pexels

Simon Gall litt seit seiner Jugend unter einer bipolaren Störung. Nach zahlreichen Therapien und Klinikaufenthalten beschloss er, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und seine Krankheit auf einem 1.300 km Lauf nach Rom zu besiegen. Von seinen Erfahrungen auf seiner Reise erzählt er hier:

Sei pazzo? Bist du verrückt?

Die Worte in geschwungener Schrift sind noch leicht rot inmitten der gezackten Linie, die sich an der Innenseite meines linken Oberarms befindet. Für immer auf der Haut verewigt – nicht nur im Kopf.

Die Worte sind Italienisch und bedeuten „Bist du verrückt?“ Und sie sind es, die meine Reise zu mir selbst im Jahr 2015 am besten beschreiben.

Damals habe ich kurzentschlossen und ohne große Planung meinen Rucksack gepackt, meinen Eltern ein paar letzte Worte geschrieben und bin losgelaufen. Erst ohne bestimmtes Ziel. Doch schon bald hatte ich Palermo am Ende des Horizontes ins Auge gefasst. Im März trieben mich meine Beine über den Fernpass, dann über den Reschenpass, durch das Etschtal, südlich Richtung Rom. Und weiter bis Anzio.

Drei Monate, 1300km, 10 € am Tag Budget. Kein Internet, keine Musik und niemand, der wusste, wo ich war.

Nur ich, meine Gedanken und die Straße unter meinen Füßen. Der Rucksack, den ich trug, war nicht nur einer mit Taschen und Riemen, zu Beginn gefüllt mit Sachen, die ich nicht brauchte. Er war in meinem Kopf – und gefühlt war er viel zu groß und zu schwer, um ihn allein zu tragen.  Aber genau deshalb habe ich mich ja auf den Weg gemacht.

Einsame Jugend

Bereits als Kind muss ich lebhaft gewesen sein und sehr nah dran an meinen Gefühlen, so wurde es mir zumindest gesagt. Unfassbar fröhlich und sehr leicht zu begeistern, aber ein stürmischer Wirbelwind, wenn mir irgendetwas nicht passte. So weit so gut.

Doch eine Freundschaft, die mich über Jahre hinweg prägte, veränderte alles. Ich war sicher bei ihm. Ein Alpha-Tier. Viele Jahre des gemeinsamen Winter- und Sommerurlaubs. Unzählige Stunden auf dem Fußball-Platz. Aber eine Abhängigkeitssituation, die mich nachhaltig beeinflusste. „Du kannst ohne mich nichts, du bist ohne mich nichts und du wirst ohne mich nicht überleben.“  Wenn man das nur oft genug hört, glaubt man es irgendwann.

Doch einmal widersprochen und alles lag in Scherben. Zwei Jahre Mobbing, Einsamkeit, Verzweiflung. Erinnerung ist keine geblieben. Bis auf wenige Fragmente – alles weg. Wahrscheinlich ist es auch besser so.

Der Schulwechsel brachte die Wende. Vom Mitläufer mit nicht kommunizierten Zielen, wurde ich Klassensprecher. Sogar Schulsprecher. Jedes Komitee, jede Aufgabe, die es gab, habe ich angenommen. Die Schule ermöglichte mir die Teilnahme an Auslandsreisen und Serviceprojekten in Guatemala, Indien und Thailand. Besonders beliebt war ich in dieser Zeit nicht. Und übermäßig glücklich oder zufrieden auch nicht.

Das erste Mal Therapie

Ich habe mich verändert. Ich habe den nicht vorhandenen Selbstwert mit einem umso größeren Ego kompensiert. So sehr, dass sogar meine Mama vor ein paar Jahren einmal gesagt hat, „dass es sogar für sie manchmal schwierig war mich zu lieben.“ Kurz vor den Abiturprüfungen besuchte ich zum ersten Mal einen Therapeuten. Es ging mir nicht gut.

Ich war dauerhaft im Zweifel, fühlte mich in meiner Haut nicht wohl. Ich wollte immer überall sein, nur nicht dort, wo ich war. Ich war voll und leer zu gleich. Grau in Grau. Alles irrelevant. Er sagte, ich sei 100% emotional fremdbestimmt. Und er hatte recht. Mein Selbstbild war nur der Spiegel dessen, was mich die Personen um mich herum spüren ließen.

Und so war es kein Wunder, dass mir bald klar geworden ist, dass ich all die „großen Taten“ nur gemacht hatte, um meinem Freund von damals aus der Ferne zu beweisen, dass ich es eben doch ohne ihn schaffe.

Die dunkle Phase

Ein Stipendium führte mich nach dem Abschluss an eine amerikanische Universität. Ich wollte gar nicht fliegen, weil ich so große Angst hatte zu enttäuschen. Geflogen bin ich trotzdem. Aber die nächste depressive Phase hat nicht lange auf sich warten lassen.

Das zweite Semester war besser. Mehr Energie, große Risikobereitschaft, wenig Pflichtbewusstsein. Die Situation wurde während des 2-monatigen China-Aufenthalts vor dem Studium in München noch beängstigender. Schlaf – brauchte ich nicht. Geld – geht schon irgendwie. Drogen – kann man ja mal probieren. Sex – egal mit wem, egal wo, egal wann.

Das Studium in München war dagegen ernüchternd. Kein Globetrotter mehr. Alles zu klein für mich. Übermannt von Erwartungen an mich selbst, die für zwei Leben gerreicht hätten. Und dann: Flatsch! Auf dem harten Boden der Realität angekommen. Uni abgebrochen. Dunkles Zimmer, viel Bier und Wein, rauchen im Zimmer. Isolation.

2014 war kein gutes Jahr. Zuerst kamen zehn Wochen Tagklinik. Diagnose: Manisch-Depressiv. Ein kurzer Sommer gipfelte in der spontanen Entscheidung eine Banklehre zu beginnen. „Um etwas handfestes zu haben“, so meinten meine Eltern.

Doch zwei Monate später wiesen mir die Worte meiner damaligen Therapeutin „Ich kann Ihnen das, was sie brauchen, nicht mehr bieten.“ den Weg in die geschlossene Psychiatrie. Gefährdet. Bestes Haus am Platz. Nussbaumstraße.

Weihnachten und Silvester verstrichen und ich kehrte in die Arbeit zurück. Aber obwohl nichts weiter vorgefallen war und obwohl ich meine Medikamente weiterhin genommen habe, kam es zu einem erneuten Ausbruch. Ein Psychiater sagte mir aufs Gesicht zu, dass er mich jetzt „drei Wochen krankschreiben kann, aber wenn es dann nicht besser sei, müsse ich zurück ins Krankenhaus.“

Der Beginn meiner Reise zu mir selbst

Alles, nur nicht das. Die Spiegel aus Plastik, Kameras an den Decken, die Tristesse, die vielen Medikamente – ich wollte das nicht mehr. Und dann erinnerte ich mich an Alexander Supertramp („Into The Wild“) und nahm mein Schicksal selbst in die Hand.

Die kommenden drei Monate haben mir dabei geholfen aufzuräumen. Innerlich. Wenn ich einen Schritt vor den nächsten setzte und mit meinen Gedanken allein war, habe ich mir vorgestellt in meinen zugemüllten Dachboden zu gehen. Ich habe die Kisten einzeln geöffnet, habe sie durchgesehen. Alles was ich nicht mehr brauchte, habe ich aussortiert. Die wichtigen Erinnerungen und Erkenntnisse habe ich abgestaubt und wieder ordentlich zurückgeräumt. Tag für Tag, Thema um Thema.

Ich habe wunderbare Menschen kennengelernt. Ich habe bis Rom keinen Cent fürs Schlafen ausgegeben. Ich habe in Kirchen geschlafen, unter freiem Himmel, in Studenten-WGs, bei Familien mit Kindern und bei Senioren. Ich hatte immer zu Essen, großartige Gesprächspartner und habe unterwegs Italienisch gelernt. Ich hatte das Gefühl die Kontrolle über mein Leben zurückzubekommen. Ich war es leid mich weiterhin als Opfer meiner selbst zu betrachten. Und Ende 2015 habe ich 107 Postkarten verschickt. An alle, die wissen wollten, was aus mir wurde.

Eine Zeit lang hat mich ein deutscher Franziskaner-Mönch begleitet. In einem kleinen Dorf südlich von Rom habe ich eine Babykatze gefunden, die verwahrlost nach ihrer Mutter schrie. Sie lebt heute bei meinen Eltern und trägt den Namen Antonella Mortadella.

Mein Leben nach meiner Reise

In der Zwischenzeit ging mein Leben bewegt weiter. Ich bin im Rahmen der Ausbildung mehrmals umgezogen. Sogar ein beruflicher Ausflug zurück nach Amerika hat sich ergeben. Auch, wenn dieser durch Corona jäh beendet wurde.

Und jetzt bin ich zurück. In meiner Heimat. Zurück dort, wo ich nie sein wollte. Weil ich es jetzt möchte.

Es waren einige schwere und steinige Wege dabei. Aber ich kann mich glücklich schätzen, dass ich ein tolles soziales Umfeld hatte, auf das ich mich verlassen konnte. Und ich bin immer offen mit meiner Krankheit umgegangen.

Italien hat mir das Leben gerettet. Die Menschen dort haben mir das Leben gerettet. Das Laufen, das mit der Zeit eine meditative Wirkung hatte, hat mir das Leben gerettet.

Und ich bin dankbar.

Wenn man laufen möchte, müssen es nicht gleich 1300km sein. Drei oder vier Tage allein mit seinen Gedanken können wunderwirken. Und um ein Pilger zu werden, muss man nicht gläubig sein.  Für mich war es keine Reise zu Gott, sondern zu mir selbst.

„Sei pazzo?“ konnte ich immer nur bestätigen. Die Reaktion war immer die gleiche. Wenn ich wissen wollte, wie viele Kilometer es zu meinem nächsten gewünschten Ziel waren, war die Antwort immer: „Mit dem Auto x Minuten“. Aber wenn ich sagte, dass ich „a piedi“ (Zu Fuß) unterwegs war, wurde ich für verrückt gehalten.

Ja, ich war verrückt. Aber es hat sich gelohnt.

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