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Psychisch krank zu sein ist menschlich

Foto: Emily Underworld via Unsplash

Verena Mertens hat selbst Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen und Suizidgedanken. Mit Hilfe verschiedener Therapien hat sie es geschafft, ihre Erkrankungen zu überwinden und ist mittlerweile selbst Psychologin. Hier erzählt sie von ihren Erfahrungen und plädiert für eine Normalisierung von psychischen Krankheiten in der Gesellschaft.

 

Psychische Erkrankungen normalisieren

Eine psychische Erkrankung ist eine menschliche Reaktion und nicht weniger menschlich, als sich an schönen Dingen zu erfreuen oder Verlorenes zu betrauern. Leider kommt genau das noch nicht in unserer Gesellschaft an. Zu viele Vorurteile beherrschen noch immer das Bild vieler Menschen von psychisch Erkrankten. Welcher Betroffene wurde noch nie mit einem der folgenden Sätze konfrontiert!? „Psychisch Kranke sind doch bloß faul und wollen nicht arbeiten“, „Psychisch Kranke sind gefährlich“, „Er ist zu schwach“, „Sie will doch nur Aufmerksamkeit“.

Doch warum denken Menschen so? Vor allem ist es ein Mangel an Wissensaneignung, der zu diesen negativen Einstellungen führt. Was wir nicht kennen, macht Angst und unsicher. Diese beiden Gefühle sind für die negativen Reaktionen verantwortlich. Betroffene leiden nicht nur unter den Symptomen ihrer Erkrankung, sondern die Abwertung und das Gefühl des Nicht-ernstgenommen-werdens sorgen für erheblichen zusätzlichen Leidensdruck.

Von öffentlicher und politischer Seite wird nicht ansatzweise genug getan, um die Gesellschaft für psychische Erkrankungen zu sensibilisieren. Dadurch wird dem dem Großteil der Gesellschaft die Chance genommen, Vorurteile und Berührungsängste gegenüber psychisch Erkrankten abbauen zu können.

Mein besonderes persönliches Anliegen ist es, mit meinen eigenen Erfahrungen einen Beitrag für die Entsigmatisierung von psychischen Erkrankungen zu leisten. Ich möchte anderen Betroffenen mit meiner Geschichte Mut machen, zu sich selbst zu stehen und der Gesellschaft zeigen, wie menschlich es doch ist, eine psychische Erkrankung zu entwickeln. Denn das ist die Botschaft, die ich meinen Mitmenschen mit auf den Weg geben möchte.

 

Warum psychische Erkrankungen menschlich sind

Depressive spüren vor allem eine innere Leere, der Zugang zu den eigenen Gefühlen ist versperrt. Eine Manie verhindert durch übersteigerte Hochgefühle den Zugang zur Realität. Eine Psychose schützt ebenso vor unangenehmen Emotionen. Alkohol – oder Drogensüchtige haben keine andere Problemlösestrategie gefunden, als sich zu betäuben. Besonders vorurteilsbehaftet sind Persönlichkeitsstörungen. „Menschen mit einer Borderline-Störung sind manipulativ.“ Ja, aber auch das sind Verhaltensweisen, die sie nicht bewusst gewählt haben. Sie dienten zu einem früheren Zeitpunkt vielmehr als Überlebensstrategien. Bulimie-Erkrankte erleichtern sich durch Erbrechen, weil sie keine Chance hatten das Herauslassen ihrer Gefühle zu erlernen. All das sind misslungene Selbstheilungsversuche der Psyche. Eine psychische Störung ist eine menschliche Reaktion auf Lebenssituationen, die schwer auszuhalten sind. Das Zusammenwirken vieler Faktoren bestimmen die Anfälligkeit eines Menschen, eine seelische Erkrankung auszubilden. Dazu zählen biologische Faktoren (genetische Belastung, Stoffwechselstörungen im Gehirn), familiäre Bedingungen (ungesunde Problembewältigungsstrategien der Eltern) sowie belastende Lebenserfahrungen (Trennungen, Tod eines geliebten Menschen). Was ist daran unverständlich?!

 

Jede Krise ist überwindbar

Jede Krise ist überwindbar. Das musste ich in meinem Leben immer wieder aufs Neue lernen. Seit meiner Jugend leide ich unter langanhaltenden schweren depressiven Phasen. Zwischendurch immer wieder genau das Gegenteil: ein absolutes Hochgefühl, eine Manie.

Jede Krise machte mich stärker und brachte mir eine Bereicherung für mein Leben – auch wenn es sich währenddessen keineswegs so anfühlt. Ich glaubte all meine Fähigkeiten verloren. Doch dabei waren sie nur von schwerer Depression überlagert. Viele notfallmäßige stationäre Aufenthalte waren notwendig. Mit jeder Therapie lernte ich mich auf neue Weise kennen. Die Überwindung meiner Krisen machten mich zu dem Menschen, der ich heute bin und darauf bin ich verdammt stolz.

 

Das Ende des Lebens – DIE Befreiung?

Auch Suizidalität spielte in meinem Leben immer wieder eine Rolle. Suizidale Menschen sehnen sich nach Befreiung, nach Erlösung ihres Leidens. Das ist der Grund, weshalb diese Menschen sterben wollen. Die Kräfte zehrenden Symptome sind es, die es verhindern, selbst andere Auswege zu finden. Die Betroffenen erleben zunächst eine Ambivalenz zwischen leben und sterben wollen. Das letzte Stadium ist eine Art Tunnelblick, in welchem nur noch der eigene Tod als Befreiung gesehen wird. Häufig wird gesagt, Suizidenten seien egoistisch, sie lassen ihre Angehörigen im Stich. Es ist aber ganz anders: Sie können im letzten Stadium nicht mehr an das Leid denken, welches sie ihren Lieben mit ihrer finalen Handlung antun. Denn könnten sie es, wären sie nicht dazu in der Lage, diesen Schritt zu gehen. Dennoch ist die Wut auf den Suizidenten wichtig, weil sie für die Angehörigen eine Verbindung zu dem Verstorbenen aufrechterhält.

„Für jedes Problem gibt es eine Lösung.“ Diesen Spruch hört man allzu oft und doch ist er wahr. Menschen in akuten Krisen können sich das nicht vorstellen. Ihre Sichtweise ist zu sehr eingeengt. Deswegen ist es so wichtig, sich psychotherapeutische Hilfe zu suchen. Ein Außenstehender ist notwendig. Er blickt mit Abstand auf die Problemkonstellation und kann dem Patienten alternative, gesunde Lösungswege aufzeigen. Es gilt, gemeinsam nach Wegen zu suchen, die genau zu der erhofften inneren Befreiung führen, die der Betroffene nur im selbstgewählten Tod sieht.

 

Psychisch krank und Psychologin – alles andere als ein Widerspruch

Immer wieder musste ich wegen meiner Erkrankung die Schule unterbrechen, bis ich ganz damit aufhören musste. Zukunftsängste und Hoffnungslosigkeit prägten meinen Alltag. „Aus mir wird nie etwas.“ Ich hätte es niemals für möglich gehalten, jemals Abitur zu machen, geschweige dessen einen Beruf zu ergreifen. Mit 20 Jahren brachte mich ein Zufall dazu, eine Ausbildung im sozialen Bereich zu absolvieren. Auch währenddessen musste ich mir immer wieder eine Auszeit nehmen. Mit jedem Jahr wurde ich ein wenig stabiler. Ich machte mein Abitur. Unglaublich. Freudentränen weinte ich, als ich kurz darauf zum Psychologiestudium zugelassen wurde. Ich wählte Psychologie, weil es mich immer schon interessiert hat, warum Menschen so sind wie sie sind.

Damit möchte ich ein wenig provozieren, weil ich damit genau die Vorurteile „Psycholog:innen sind doch alle selbst krank“ oder „die wollte doch nur Psychologie studieren, um sich selbst zu heilen“ anspreche. Ja, einige Psycholog:innen haben oder hatten selbst psychische Probleme. Aber sie sind in der Regel die Menschen, die Psycholog:innen, die nie persönlich mit psychischen Störungen konfrontiert wurden, etwas sehr Essenzielles voraushaben: Sie können sich aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen leichter in die Psychodynamiken und emotionalen Zustände der Patient:innen hineinversetzen, empathischer im Hinblick auf die Erlebenswelten der Patient:innen sein und authentischer von therapeutischen Maßnahmen sprechen. Das bedeutet aber nicht, dass Menschen, die nie von psychischen Störungen betroffen waren, die schlechteren Psycholog:innen sind.

Ich kann sehr viel selbst nachempfinden, wovon Erkrankte berichten, mir fällt es unglaublich leicht, mich in andere Menschen hineinzuversetzen. Auf Basis der erlernten Techniken und meinen persönlichen Erfahrungen entsteht eine gute Mischung, ein gutes Potenzial, um eine tragfähige, vertrauensvolle Beziehung zu den Hilfesuchenden aufzubauen und sich ihnen anzunehmen.

 

Der Suizid meines Therapeuten

Vor drei Jahren wurde ich erneut vor eine große Herausforderung gestellt: Mein langjähriger Psychotherapeut hat sich in einer geschlossenen psychiatrischen Station das Leben genommen. Ja, auch dort ist ein Suizid möglich. Eine Welt brach in mir zusammen. Funktionieren war anfangs noch möglich. Doch nach einigen Monaten musste ich erneut den Kampf gegen eine schwere depressive Phase aufnehmen.

Ein Suizid ist die krasseste Form eines Beziehungsabbruchs. Das macht es so schwer. Eines steht aber fest: Auch durch diese Krise habe ich mich weiterentwickelt. Jede Krise hat meinen Weg geebnet.

Das perfide an einer Depression ist, dass man sich selbst nicht mehr helfen kann, obwohl man eigentlich weiß, wie es geht. Mir ist es wichtig, auch diese Erfahrung öffentlich zu machen und nicht tot zu schweigen. Auch Psycholog:innen sind nur Menschen!

 

Das rate ich Angehörigen

Dass sich Angehörige abwenden, liegt zu 99% an Unsicherheit. Dabei ist es so wichtig, jemanden zu haben, der einfach nur da ist. „Menschen, die sich wirklich das Leben nehmen wollen, kündigen das nicht an.“ Das ist so nicht ganz richtig: 95% der Suizidenten kommuniziert im Vorfeld Suizidgedanken. Suizidgedanken sind immer als Hilferuf zu verstehen. Inzwischen weiß man, dass die finale Entscheidung meist wenige Stunden vor der suizidalen Handlung getroffen wird. Selbst in diesem Stadium gibt es Menschen, die ihr Vorhaben nach außen tragen. Ein Warnhinweis ist ein plötzlicher Stimmungswechsel: Ein noch zuvor schwer depressiver Mensch wirkt urplötzlich gelassen und fröhlich. Geht es ihm besser? Das ist ein Trugschluss: Er hat den Entschluss gefasst. Die Erlösung von jeglichem Leid steht unmittelbar bevor. Die Sehnsucht nach Befreiung wird bald erfüllt sein. Und das ist der Grund für die Gelassenheit.

Wenn ihr vermutet, eure Angehörigen könnten Suizidgedanken oder bereits Absichten haben, habt den Mut, sie offen darauf anzusprechen. Fragt sie, was sie von euch brauchen. Sie werden es euch sagen. Manchmal hilft es schon, wenn ihr euch zu ihnen setzt und gar nichts sagt. Nehmt sie ernst, in allem, was sie tun oder sagen. Sie brauchen euch!

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