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Zwei Schritte vor, einen zurück

Foto: Lindsay Henwood via Unsplash

Von „Einen Schritt vor und zwei zurück“ zu „Zwei Schritte vor und einen zurück“

Hilfe in Anspruch zu nehmen, zeugt von Stärke

András (30) ist Student und hat spätestens seit seiner Jugendzeit mit starken Ängsten in sozialen Situationen sowie immer wieder mit depressiven Phasen zu tun, die ihn lange hinderten, den eigenen Weg zu verfolgen und Stärke in sich zu erkennen. Er verfasste diesen Beitrag nach einem Tagesklinikaufenthalt, der noch nicht so lange zurückliegt und sagt von sich: „Ich bin froh und stolz, dieses Hilfsangebot wahrgenommen zu haben.“

 

Der Weg bis ich mir Hilfe gesucht habe

Es kann durchaus schwierig sein, Hilfe zu erbitten oder sich auf diese einzulassen. Es könnte das „negative“ Gefühl von Hilfsbedürftigkeit entstehen und damit würde man ja jegliche Achtung verlieren. Aber die Achtung vor sich selbst zu haben und von anderen Achtung zu erfahren, bedeutet, es akzeptieren zu können, welche Fähigkeiten man besitzt und welche nicht, bzw. was ich imstande bin zu leisten und wo die Hilfe anderer von Nöten ist. Und wenn man gerade nicht die Fähigkeit besitzt, sich aus seiner eigenen Gefühlslage und psychischen Verfassung herauszuholen, dann ist dies erstens total okay und zweitens darf man sich selbst gegenüber achtsam sein und Hilfe in Anspruch nehmen. Das ist Stärke und hat Respekt verdient. Vor sich selbst, aber auch durch andere.

Ich selbst habe Jahre gebraucht, bis ich mir zugestehen konnte, dass ich mir in Form eines teilstationären Aufenthalts helfen lassen sollte. Eine erste Möglichkeit habe ich zunächst ausgeschlagen, da ich Angst hatte. Angst vor diesem fremden Ort. Angst vor der Verpflichtung, jeden Tag dort zu erscheinen. Angst vor dem, was dort passiert. Ja, vielleicht sogar die Angst, dass ich wieder funktionieren müsse, wenn ich dort „geheilt“ herausgehe. 

Nach vier vergangenen Jahren, einigen Hilfsversuchen über ambulante Therapeut:innen und einer zunehmenden Verschlechterung meiner mentalen Gesundheit sowie Lebenssituation, habe ich es gewagt und bin mit meinen Ängsten für sechs Wochen in die Tagesklinik gegangen. Und jeder Person, die diesen oder einen ähnlichen Schritt geht, ist Hochachtung auszusprechen. Auch wenn ich mir wünsche, dass es zur Normalität wird, sich bei psychischen Problemen genauso behandeln zu lassen wie bei einem gebrochenem Arm, ist der erste Schritt nicht einfach, aber aus meiner Sicht absolut empfehlenswert.

 

Was sollte mich nun in der Tagesklinik erwarten? Es gab einige positive Überraschungen!

Zum einen erhielt ich, wie es sich vermutlich die meisten vorstellen können, eine intensive Betreuung von unterschiedlichen Therapeut:innen und Ärzt:innen, die ihr Behandlungskonzept haben, aber auch mit mir absprachen, welche Behandlungen mir besonders gut tun oder ggf. auch nicht. Des Weiteren ist es durchaus möglich, den sozial-psychiatrischen Dienst in Anspruch zu nehmen, um über seine Lebenssituation und die Verbesserung dieser hinsichtlich Finanzen u. Ä. zu sprechen.

Neben diesen Faktoren war für mich die Gruppe meiner Mitpatient:innen wegen meiner sozialen Ängste von enormer Bedeutung. Und diese sollte sich zu einem wunderbaren Geschenk entwickeln, von dem ich zu Beginn natürlich nichts wusste. Wir haben uns in der Gruppe alle sehr gut verstanden. Ich habe Freundschaften für mein ganzes weiteres Leben schließen können, die eine sehr viel tiefere Ebene erreichen als die meisten meiner Freundschaften zuvor. Das ist Gold wert. Personen kennenzulernen, die ein offenes Ohr haben, die deine Situation verstehen, die auch dir das Gefühl geben, wichtig zu sein, indem sie nach dir fragen oder dich treffen mögen. Es können also neben der hilfreichen Therapie zusätzlich wunderbare Dinge geschehen. Neue soziale Kontakte, Verabredungen zum gemeinsamen Essen oder Spieleabende. Aber auch neue Perspektiven durch den sozial-psychiatrischen Dienst sowie Klärung von Fragen, mit denen man vielleicht nicht gerne zum Amt gegangen wäre. 

Und schließlich hängt es natürlich auch von jeder Person selbst ab, was man für sich aus einem derartigen Hilfsangebot für sich herauszieht und mitnimmt. Ich habe zum Beispiel die Erfahrung sammeln dürfen, in der Klinik ganz ich selbst sein zu können: Wut rauszulassen, zu schreien, zu weinen. Es gab bessere und schlechtere Tage, die ich mir zugestehen konnte und zugestanden habe. Somit war auch Freude, Spaß und sich gegenseitig auf den Arm nehmen, ein zentraler Bestandteil, wodurch ich für mich wieder in Erfahrung bringen konnte, was mir Spaß macht. Ich habe während des Klinikaufenthalts einen neuen Freundeskreis aufbauen können und pflege diese Kontakte sehr gerne (was mir im Übrigen vorher nicht so leicht fiel). Ich habe mit dem Tanzen begonnen und orientiere mich bezüglich meiner Tages- und Wochenstruktur viel stärker an meinen Bedürfnissen und an dem, was mein Körper benötigt.

 

Mein Zustand heute nach der Tagesklinik

Es geht mir heute noch nicht perfekt und es gibt immer wieder Tage, die auch schwierig sind, dennoch hat mir die Tagesklinik über sechs intensive Wochen sehr dabei geholfen, mich näher kennenzulernen und anders auszurichten. So gehe ich jetzt nicht mehr „einen Schritt vor und wieder zwei zurück“, sondern „zwei Schritte vor und einen zurück“. Ich gehe gerne tanzen und lerne neue Menschen kennen, mag mich wieder verabreden und kann mir in der einen oder anderen Angstsituation selbstständig helfen.

Traut euch, liebe Leser:innen, die Hilfe in Anspruch zu nehmen, die ihr benötigt. Das ist Stärke und verändert auf jeden Fall die eigene Ausgangslage, wenn nicht sogar viel, viel mehr. Und neben der eigentlichen Therapie wartet durchaus noch so viel Schönes, das man vorher gar nicht erahnen hätte können.

Das Problem ist nicht, dass es uns schlecht geht, sondern, dass wir das Gefühl haben, dies nicht äußern zu dürfen. Stark zu sein, was in unserer Gesellschaft ja ach so häufig postuliert wird, heißt aber vor allem auch für sich zu sorgen und dort, wo man Hilfe benötigt, auch um Hilfe zu bitten. Wir sind soziale Wesen. Es geht immer um ein Geben und Nehmen. Hilfe in Anspruch zu nehmen, ist ein natürlicher Akt, der jedem Menschen zusteht. Liebe Leser:innen traut euch, ihr seid es wert.

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