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Das Leben wertschätzen, Schritt für Schritt:
Mein persönlicher Weg aus der Trauer

Foto: Katharina Schumacher

Katharina verlor in einem relativ kurzen Abstand ihre beiden Elternteile – ihren Vater durch Suizid, ihre Mutter nach langer chronischer Krankheit an Krebs. Dieser Verlust löste, aufgrund der Verantwortung, die sie vorher trug, eine große Leere in ihr aus und führte sie in eine Identitätskrise. Alte Muster wurden nun untauglich und die Trauer, die sie lange von sich schob, wollte endlich verarbeitet werden. Also begann sie eine Therapie und ihr Leben neu zu ordnen. In diesem Beitrag beschreibt sie ihren Weg der Trauerverarbeitung, in ein neues Leben und wie ihr das Wandern und die Natur ihr dabei helfen.
Aktuell wandert sie auf dem Pacific Crest Trail in den USA, begleitet ihre Reise auf Social Media und ihrem Blog und hat einen Fundraiser zugunsten von Freunde fürs Leben e.V. gestartet. Alle entsprechenden Links, sind am Ende des Beitrags zu finden.

Das Leben wertschätzen, Schritt für Schritt: Mein persönlicher Weg aus der Trauer

Zwei Anrufe, die ich wohl niemals vergessen werde. Einer im Mai 2017, der andere im September 2021. Die Erinnerungen an diese Tage, an denen ich zuerst meinen Vater durch Suizid und einige Jahre später meine Mutter, nach Jahrzehnten chronischer Erkrankung, durch Krebs verloren habe, könnten nicht unterschiedlicher sein. Eines haben sie jedoch gemein: Das Vakuum, das sie hinterlassen haben.

Von Verantwortung – für andere und sich selbst

Seit ich denken kann haben meine Schwester und ich Verantwortung übernommen – das war normal, denn die Unterstützung, auf die meine Mutter aufgrund ihrer Erkrankung an Multiple Sklerose, angewiesen war, konnte mein Vater nicht allein übernehmen und Hilfe von außen wurde lange Zeit nicht angenommen. Bevor ein falscher Eindruck entsteht: Unsere Eltern haben uns alles ermöglicht, waren liebevoll, und ich habe viele schöne Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend, jedoch waren Selbstständigkeit sowie Verantwortung und Fürsorge nicht nur für uns selbst sondern auch für unsere Eltern eine Selbstverständlichkeit, die wir bereits vom frühen Schulalter an gelernt haben.

Mit dem Verlust meiner Eltern und dem damit verbundenen Wegfall der Verantwortung für sie, entstand das Vakuum: Ein leerer Raum, mit dem ich nichts anzufangen wusste und der viel, zu viel, Platz einnahm. Lange Zeit nach dem Suizid meines Vaters schaffte ich es, ihn zu ignorieren, meine Mutter war ja noch da und auf mich und meine Schwester angewiesen. Im Herbst 2021 jedoch fiel auch diese Verantwortung und die damit verbundenen Gefühle der Verpflichtung weg. Wenn ich sage, ich wusste wenig mit mir anzufangen, ist das untertrieben: Ich wusste gar nichts mit mir anzufangen.

Die Trauer kommt – früher oder später 

Die plötzlich entstandene Leere hat mich nicht nur viele vorangegangene Entscheidungen für mein eigenes Leben in Frage stellen lassen, sondern auch viele Erinnerungen und Emotionen aufgewühlt, die ich lange mit mir herumgetragen habe, mit denen ich mich auseinanderzusetzen jedoch nicht bereit war. Stets beschäftigt zu sein, viel Zeit und Energie in die Arbeit zu stecken sowie immer Pläne am Abend oder am Wochenende zu haben waren meine Bewältigungsstrategien – rückblickend betrachtet eindeutig Verhalten von Verdrängung, jedoch auch eine wichtige Form des Selbstschutzes, denn ich war einfach noch nicht so weit.

Die Pandemie und die vielen ausgefallenen Pläne in 2020 haben zum ersten Mal an diesem Konstrukt gerüttelt. Als ich 2021 dann einige Monate nur zwischen Home Office, Krankenhaus und Pflegeeinrichtung pendelte und anschließend meine Mutter im Herbst verstarb, war klar, dass der Umgang mit all diesen Erlebnissen, der so lange für mich funktioniert hatte, mir nicht mehr dienlich war. Mir wurde bewusst, dass das Leben, ohne meine Eltern, nie mehr so sein würde, wie ich es gekannt hatte. Ich versuchte in Retrospektive Erklärungen für vieles zu finden, war von Schulgefühlen geplagt. Zeitgleich hinterfragte ich zentrale Lebensentscheidungen, meine eigenen Vorstellungen vom Leben, und hatte Schwierigkeiten überhaupt zu artikulieren, welche Bedürfnisse und Wünsche ich für mich selbst habe. Das Vakuum hatte alles eingenommen, meine Gedanken, meine Gefühle und wie ich meine Umwelt wahrnahm.

Die richtige Hilfe für sich selbst suchen, finden und annehmen

Dann kam die Angst, selbst immer tiefer in depressive Gedankenspiralen gezogen zu werden, und mit ihr die Einsicht, dass die nun die Zeit gekommen war, mich der Trauer, dem Erlebten und all diesen offenen Fragen zu stellen. Ich habe selber Psychologie studiert und mich oft gefragt, warum ich nicht früher professionelle Unterstützung gesucht habe, obwohl ich weiß, wie entscheidend negative Lebensereignisse sich auf unser Erleben und unsere Psyche auswirken können. Aber Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit sich selbst und dem eigenen Leben erfordern viel Energie, die ich zu einem früheren Zeitpunkt schlicht nicht hätte aufbringen können.

Neben der psychologischen Hilfe, waren meine Schwester, ihre Familie und meine Freunde der wohl wichtigste Faktor, die vergangenen Jahre zu meistern. Lange Zeit hatte ich, aus wohl ersichtlichen Gründen, mit dem Begriff „Zuhause“ zu kämpfen. Aber die Liebe, Fürsorge und Unterstützung, die ich erfahren durfte und sich wie ein Tarnumhang um mich legten und sicher und unentdeckt durch die dunklen Tage leiteten, haben dieses Gefühl für mich ganz neu definiert. Und dann war da noch diese andere Sache, die mir half meine Gedanken zu ordnen, mir Energie gab und mein Selbstbewusstsein stärkte: Die Natur.

Neue Energie und Inspiration in der Freiheit der Natur finden

Hätte mir jemand vor einigen Jahren erzählt, dass ich mal zu einem richtigen „Outdoor Girl“ (die lustig anmutende, etwas überzeichnete Beschreibung, die in meinem Freundeskreis verwendet wird) werde, hätte ich diese Person wohl ausgelacht. Aber – ausnahmsweise der Pandemie zum Dank – habe auch ich während der vielen Lockdowns das Wandern für mich entdeckt … und bin dabei geblieben. Die Natur und das Wandern helfen mir, mich zu beruhigen, meine Gedanken zu ordnen und „draußen“ ist für mich ein wunderbarer Ort geworden, mich zu erden, loszulassen und mich ganz und gar frei zu fühlen.

Während ich also die Natur für mich entdeckte, wuchs im Rahmen der Therapie mein Wunsch nach Veränderung und Abstand vom Alltag, um den Raum zu schaffen, mein eigenes Leben neu zu gestalten. Inspiriert durch ein Buch der deutschen Weitwandererin Christine Thürmer wurde so im Laufe der Jahre aus dem geheimen Traum, eines Tages den Pacific Crest Trail, einen 4.265 Kilometer langen Fernwanderweg in den USA, zu wandern, ein immer konkreter werdender Plan. 2023 ist es nun soweit und am 28.April startete die Reise in mein hoffentlich fünfmonatiges Wanderabenteuer. Auf dem Rücken nur Zeltausrüstung, passende Kleidung, Essen und Wasser, umgeben von der vielfältigen Landschaft des US-amerikanisches Hinterlands, Wüste, Bergen und Wäldern.

Von der Wanderung entlang des Pacific Crest Trails erhoffe ich mir nicht nur, mich weiter der Natur zu nähern und die Schönheit und Freiheit zu genießen, die sie zu bieten hat. Ich glaube, dass ich durch diese Erfahrung, die ganzen Herausforderungen und einzigartigen Momente, mich selbst noch besser kennenlernen und wachsen kann, daraus noch stärker und auf gewisse Weise erneuert hervorgehen werde. Die Reise steht am Ende eines langen Erkenntnis- und Wachstumsprozesses und fühlt sich gleichzeitig wie der Anfang von einem neuen, noch völlig unbekannten Kapitel an.

In meinem engsten Umfeld gehe ich sehr offen mit meiner Lebensgeschichte um, sie jedoch öffentlich zu teilen ist begründet in dem Interesse und den vielen Nachfragen, ob und wie man meine Reise verfolgen kann. Ich möchte diese Aufmerksamkeit nicht verstreichen lassen, ohne die Möglichkeit nutzen, um über Themen zu sprechen, die viele betreffen, aber dennoch mit vielen Stigmata behaftet sind und entsprechend tabuisiert werden. Zudem waren es allen voran meine Schwester, ihre Familie und meine Freunde, die mich durch alle Zeiten begleitet haben, sensibel und aufmerksam mit der Situation umgegangen und mich sicher auch einige Abschnitte des Weges getragen haben. Echte Freund:innen fürs Leben, wie ich sie gern nenne. 

 

Katharinas Reise verfolgen und die Spendenaktion für Freunde fürs Leben, die sie im Zuge ihrer Wanderung gestartet hat, unterstützen, kann man unter folgenden Links:

Spendenaktion | Katharinas Instagram | Deutscher Blog | Englischer Blog

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