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Überwunden: Wege aus der Selbstverletzung

Foto: Kai-Hendrik Schroeder

Überwunden ist ein Buchprojekt, dass dem Thema „selbstverletzendes Verhalten“ Raum geben will. Es entstand aus einer Idee des Lüneburger Tätowierers Daniel Bluebird, der immer wieder Anfragen von Menschen bekam, ihre Selbstverletzungsnarben mit Tattoos zu überdecken. Im Rahmen dieser Sessions führte er viele intime Gespräche und erlebte wie Betroffene unter dem vorherrschenden gesellschaftlichen Stigma leiden. Das wollen er und sein Team ändern, indem sie darüber reden beziehungsweise die Betroffenen reden lassen.

Wer selbstverletzendes Verhalten durchmacht, kann sich kaum vorstellen, wie es danach ohne das selbstverletzende Verhalten weitergehen kann. Bleibende Narben? Zweitrangig, wenn man keine Zukunft vor sich sieht. Doch das Leben geht weiter – und es kann richtig schön werden! Dafür stehen Betroffene, die ihr selbstverletzendes Verhalten überwunden haben, und die mit ihrer Geschichte anderen Betroffenen und Angehörigen Mut machen. In diesem Beitrag stellen wir euch einige dieser Menschen vor.

Warum verletzt man sich selbst?

Wie kann man selbstverletzendes Verhalten überwinden? Wie können Angehörige und  Freund:innen an Betroffene herankommen? Klar ist: Die beste Hilfe ist professionelle  therapeutische Hilfe, die auch die Ursachen angeht. Auslöser von selbstverletzendem Verhalten  können psychische Erkrankungen wie Depressionen, Borderline-Persönlichkeitsstörung oder auch  traumatische Erlebnisse sein. Darüber zu sprechen, fällt Betroffenen meist nicht leicht. Denn  anders als es ein gängiges Vorurteil meint, geht es beim SVV meist nicht darum, Aufmerksamkeit  zu erregen. Selbstverletzungen erfolgen eher im Verborgenen und erscheinen Betroffenen als  einziges Mittel, um mit Druck, Anspannung und belastenden Gefühlen umzugehen. Der Moment  der Selbstverletzung wird als erlösend wahrgenommen.

Erfahrungen von Betroffenen

„Es ist wie eine Überlebensstrategie,“ erinnert sich Trine an die Zeit ihres selbstverletzenden  Verhaltens, „um klarzukommen, um aus negativen Gefühlen herauszukommen.“ Für Trine waren  Selbstverletzungen zudem ein Weg, überhaupt etwas zu spüren. Aus demselben Grund hat sich  auch Lilly in einer Phase ihres Lebens immer wieder Schnittwunden zugefügt. „Gefühle zu haben,  das geht in der Depression verloren. Das SVV ist ein Konter dagegen. In den zehn Sekunden, wo  es weh tut, merkst du: Oh! Ich lebe ja noch!“ 

Heute kennen Trine und Lilly andere Wege, um ihre Gefühle zu regulieren. Sport zum Beispiel.  Oder die Hände in Eiswasser tauchen oder mal in eine Chilischote beißen – solche „Skills“  können ein wirksamer Ersatz für selbstverletzendes Verhalten in Zeiten von Stress oder  Anspannung sein. Was einem persönlich am besten hilft, entdeckt man für sich in seiner  individuellen Therapie.  

Doch da liegt häufig die erste große Hürde: Die Erkenntnis, dass man Hilfe braucht, kostet  Überwindung. Oft sind es auch Schamgefühle, die Betroffene daran hindern, sich nahestehenden  Menschen anzuvertrauen; die Angst, auf Unverständnis zu stoßen oder für die Selbstverletzungen verurteilt zu werden. 

Sind traumatische Erlebnisse Teil der Leidensgeschichte, kann auch der Wunsch nach  Verdrängung dazu kommen. Jessica ist als junges Mädchen Opfer sexuellen Missbrauchs  geworden. Erst Jahre später konnte sie über den Vorfall sprechen. Über ihre Gefühle zur Zeit ihres  selbstverletzenden Verhaltens sagt sie: „Ich habe das immer versteckt, immer geheim gehalten.  Ich wollte auf jeden Fall verhindern, dass rauskommt, was da passiert ist. Immer, wenn ich mich  verletzt habe, war ich der festen Überzeugung, dass ich es nicht anders verdient hätte. Ich habe  traurige Lieder gehört und habe mich in diese Traurigkeit so lange hineingesteigert, bis ich mich  überwinden konnte, mich zu schneiden. Wenn ich es dann getan hatte, war da diese Euphorie, dass man endlich wieder was gespürt hat. Andernfalls war man innerlich aufgewühlt, traurig, mit  dem Gefühl, mit niemandem reden zu können … ich habe ja auch keinen an mich rangelassen.“ 

Solche Gefühle und Erfahrungen sind häufig. Umso wichtiger ist es, als Gesellschaft über das  Thema selbstverletzendes Verhalten zu sprechen, es aus der Tabuzone zu holen und zu  entstigmatisieren. Menschen, die ihr selbstverletzendes Verhalten überwunden haben – oder auf  dem Weg sind, dies zu tun – können mit ihrer Geschichte und ihren positiven Erfahrungen ein  Vorbild werden, für die, die den Weg der Heilung noch vor sich haben.

Das Projekt

Trine, Lilly und Jessica sind diesen Schritt gegangen. Sie sind Teilnehmende eines Buchprojekts, dass ihre und die Geschichte fünf weiterer Betroffener erzählt: „ÜBERWUNDEN – Tattoos auf  Narben der Vergangenheit“. Das Projekt wurde 2018 von einem Team um den Lüneburger  Tätowierer Daniel Bluebird ins Leben gerufen. Bluebird hatte oft Kund:innen, die sich selbst  beigebrachte Narben übertätowieren ließen, um einen Abschluss für das SVV zu finden und um  sich vor Blicken, Stigmatisierung oder auch weiteren Selbstverletzungen zu schützen. Aus diesen  Erfahrungen entstand die Idee, Betroffene zu porträtieren, und mit ihren Geschichten der  Stigmatisierung etwas entgegenzusetzen. 

Im März 2023 ist das Buch erschienen. Es enthält nicht nur die vollständigen und bebilderten  Interviews mit acht Betroffenen, sondern wirft mit rund fünf Jahren Abstand zu den Interviews  auch einen Blick auf ihr heutiges Leben.  

Die Geschichten der acht Menschen im Buch sind individuell. Sie haben ihre eigenen Erfahrungen,  was ihnen geholfen hat und was nicht, welchen Umgang und welche Reaktionen ihrer  Mitmenschen sie sich gewünscht hätten. Was jedoch alle acht Porträtierten gemeinsam haben:  Sie alle haben ihr selbstverletzendes Verhalten letztendlich mithilfe von Therapien überwunden,  und sie alle haben sich seit ihrer Teilnahme am Projekt 2018 nie wieder selbst verletzt. Ihr Leben  hat sich nach der Therapie und ohne selbstverletzendes Verhalten grundsätzlich zum Besseren  entwickelt – und sie sind bis heute froh, dass sie ihre Geschichte mit anderen teilen können. Auch,  um anderen zu helfen. 

So ist ÜBERWUNDEN ein Buch, das Betroffenen und Angehörigen Hoffnung gibt und Mut macht,  gemeinsam mit professioneller Hilfe selbstverletzendes Verhalten und seine Auslöser zu  überwinden. Gleichzeitig sind Trine & Co. mutige Vorbilder dafür, sich anzuvertrauen und über  Gefühle zu sprechen.  

Denn das ist der erste Schritt in ein Leben ohne Selbstverletzung.

Weitere Infos zu dem Projekt „Überwunden“ und zu selbstverletzendem Verhalten (SVV) finden sich unter folgenden Links:

Buch & weitere Infos | Interview Überwunden-Team | Infovideo zu SVV

Foto: Kai-Hendrik Schroeder

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