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Soforthilfe

Das Sofa kuriert meine Psyche nicht

Foto: eduard via Unsplash

Meine psychische Erkrankung lässt sich nicht auf dem Sofa auskurieren: Warum ich ohne Arbeit noch kränker werde

Sarina Wassermann ist während ihres Studiums psychisch erkrankt. Schnell stellt sie fest, ohne Aufgabe, ohne Arbeit verschlechtert sich ihr Gesundheitszustand. Also studiert sie weiter, in ihrem Tempo. Doch als der Abschluss naht und sie sich mit einem Berufseinstieg konfrontiert sieht, muss sie feststellen, wie schwierig dies für Menschen mit psychischer Krankheit ist. Diesem Problem möchte sie etwas entgegensetzen und gründet die Initiative „Diagnose: Arbeitsfähig“. In diesem Beitrag erzählt Sarina von ihrem Weg dorthin.

Wenn ich groß bin, werde ich rasende Reporterin 

Die Frage: „Was willst du werden, wenn du einmal groß bist?“ begleitete mich schon früh. Ob durch Verwandte, die Erziehenden im Kindergarten oder Lehrende. Selbst mein Diddl-Freundebuch stellte mir neben Lieblingsessen und der für mich als 10-jährigen sehr indiskreten Frage nach meinem Schwarm auch die Frage: „Was willst du später werden?“.

Ich war damals nicht so gewieft wie mein Bruder, der an die auszufüllende Stelle im Buch „Milliardär“ eintrug. Stattdessen füllte ich gewissenhaft und mit krakeliger Grundschulhandschrift „Journalistin“ ein. Mein großes Vorbild damals: Karla Kolumna, die rasende Reporterin aus den Benjamin Blümchen und Bibi Blocksberg Geschichten. Mit ihrem Motorroller jagte sie durch die Straßen auf der Suche nach neuen Geschichten, die sie mit ihrem berühmten Ausruf: „Sensationell!“ betitelte.

Sensationsgeschichten – die wollte ich später für Zeitungen zu Papier bringen. Also fing ich mit dem Schreiben an. In der Grundschule schrieb ich Geschichten für meine Kuscheltiere, auf dem Gymnasium freute mich auf jeden Aufsatz, den Lehrende mir aufgaben, nach dem Abitur absolvierte ich Praktika im redaktionellen Bereich dazu und schließlich startete ich ein Linguistik-Studium. Ich war auf einem guten Weg, eine rasende Reporterin zu werden. 

Dass ich meine beruflichen Ziele nicht erreichen könnte, habe ich nie in Frage gestellt. Ich war ehrgeizig, das Lernen machte mir Spaß und ich war gesund – dachte ich. 

Herzrasen statt rasender Reporterin 

Tatsächlich hat es mich manchmal selbst gewundert, dass ich psychisch gesund war. Einer der Hauptfaktoren von psychischen Erkrankungen sind belastende Kindheitserfahrungen. Davon habe ich leider einige im Gepäck. Bis ich 21 war merkte ich das aber nicht. Meine Psyche hatte als Schutzmechanismus all die negativen Erfahrungen abgespalten. Als ich jedoch im dritten Semester meines Linguistik-Studiums war, sollte sich das ändern. 

Ich befand mich in der U-Bahn auf dem Weg zur Uni. Gedankenverloren saß ich auf meinem Platz, als ich bemerkte, wie mein Herz anfing schneller zu schlagen. Ich versuchte dem ganzen keine Beachtung zu schenken. Die Bahn war voll mit Menschen, es war stickig – nicht ungewöhnlich, dass der Herzschlag sich da erhöht. Doch mein Herz schlug immer schneller und schneller bis es so sehr raste, dass es sich fast selbst überschlug. Es fühlte sich an, als würde es jeden Moment aus der Brust springen. Und plötzlich war sie da: die pure Angst! 

Als die Bahn die Haltestelle Universität erreichte, stürmte ich so schnell ich konnte raus und sackte auf dem Bahnsteig zusammen. Mit dem Krankenwagen kam ich ins Krankenhaus. Dort attestierte man mir einen Kreislaufzusammenbruch. Ab diesem Tag war für mich nichts mehr wie vorher. Dinge wie U-Bahnfahren, Einkaufen gehen, Freund:innen treffen waren plötzlich unmöglich. Denn Angst und Herzrasen waren meine ständigen Begleiter. Statt wie Karla Kolumna den neusten Sensationen herzujagen, jagte ich von Ärzt:in zu Ärzt:in. Erst Jahre später erfuhr ich: Ich hatte eine Traumafolgestörung, die sich vor allem in Panikattacken äußerte. 

Arbeit als Antidepressivum

Auch mit psychischer Erkrankung konnte ich – wenn auch eingeschränkt – weiter studieren. Besonders hilfreich war, dass ich meinen Stundenplan flexibel gestalten konnte. Ich konnte entscheiden, wann ich Pausen machte, ob ich meine Vorlesung in der Bibliothek oder zuhause nacharbeitete. Gelegentlich habe ich auch ein Urlaubssemester eingelegt und bin zur Behandlung in einer Klinik gewesen. Wodurch ich nicht den Mut verloren habe: Es tat mir gut mit dem Studium eine Beschäftigung zu haben, die ich nach meiner eigenen Belastungsgrenze ausgestalten konnte. 

Medial wird Arbeit meistens im Kontext mit Burnout begutachtet. Dass Arbeit auch eine gesundheitsfördernde Komponente hat, wird weniger betrachtet. Arbeit kann tatsächlich auch antidepressiv wirken und nein — das ist kein Mythos des Kapitalismus. Wichtig ist, dass die Arbeit so ausgestaltet ist, dass die positiven Aspekte überwiegen. Aspekte wie: 

  • Struktur
  • soziale Kontakte
  • Erfolgserlebnisse 
  • Selbstvertrauen 
  • das Zutrauen von anderen 

Mit psychischer Erkrankung zu studieren hat mir gezeigt: Ich brauche für meine Genesung eine Beschäftigung, die mich fordert, aber nicht überfordert. Doch mit dem Ende meines Studiums, näherte sich die unangenehme Frage: Finde ich so eine Beschäftigung in unserer Arbeitswelt?  

Sensationsgeschichten adé?

Als ich in den Beruf einsteigen wollte, wurde mir schnell klar: Die nächste Karla Kolumna werde ich erstmal nicht. Meinen Traum von einem journalistischen Volontariat konnte ich abhaken, da ich keine durchstrukturierte 40 Stunden leisten konnte. Gesucht habe ich daher eine 20 Stunden Stelle mit möglichst flexiblen Arbeitszeiten.  

Worauf ich gefasst war: Meine psychische Erkrankung löst bei Arbeitgebenden sicher keine Jubelschreie aus. Worauf ich nicht vorbereitet war: Das geringe Angebot an 20 Stunden Stellen und dass meine lange Studienzeit (11 Jahre) für viele Arbeitgebende ein KO-Kriterium war. 

Also machte ich mich in puncto berufliche Integrationsmaßnahmen schlau. Doch statt Hilfe fand ich Hürden. Da ich Berufseinsteigerin war und noch kein Arbeitsverhältnis innehatte, war kein betriebliches Eingliederungsmanagement möglich. Andere Eingliederungsmaßnahmen haben meine akademische Qualifikation nicht berücksichtigt. Und: Mein Antrag auf Schwerbehinderung wurde abgelehnt. Stattdessen sagte mir das Jobcenter, ich solle meine beruflichen Ansprüche runterschrauben. Gerecht fand ich das nicht. Das Gefühl meine Interessen und Fähigkeiten nicht einsetzen zu können, gab mir ein Gefühl von Perspektivlosigkeit. Und was passiert, wenn Menschen sich perspektivlos fühlen? Sie werden depressiv. 

Meine persönliche Sensationsgeschichte

Depressiv und im Stich gelassen so habe ich mich bei meinem Berufseinstieg gefühlt. Und ich bin nicht allein. 53% aller Studierenden mit gesundheitlicher Beeinträchtigung haben eine psychische Erkrankung. Sie alle sind davon betroffen, dass es beim Übergang vom Studium in den Beruf keine passenden Unterstützungsangebote gibt. Und das ist gefährlich. Für die Betroffenen, die aufgrund fehlender Perspektiven weiter erkranken, aber auch für die Kostenträger, welche die Kosten von abgebrochenen Bildungskarrieren bis hin zur Frühverrenterung tragen müssen.  

Deshalb bin ich selbst aktiv geworden und habe den Verein Diagnose: Arbeitsfähig (D:A) gegründet. Unser Ziel: Die beruflichen Möglichkeiten von Studienabsolvent:innen mit psychischer Erkrankung verbessern und Arbeitgebenden helfen, auf das akademische Fachkräftepotential dieser Gruppe zugreifen zu können. Das machen wir durch Öffentlichkeitsarbeit, Workshops und einem Peer Austausch für Betroffene. 

Durch meinen Aktivismus für D:A kann ich die Person sein, die ich damals gebraucht hätte: Jemand, der sich dafür einsetzt, dass anderen Menschen mit psychischer Erkrankung eine Perspektive bekommen. Und das finde ich: Sensationell!

Weitere Infos zur Initiative „Diagnose: Arbeitsfähig“ findest du unter folgenden Links:

diagnose-arbeitsfaehig.de | Instagram

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