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Der Alltag eines ambulanten Psychotherapeuten

Foto: Tom Enders

Mein Name ist Tom Enders, ich bin 32 Jahre alt und arbeite als Psychotherapeut für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene (Verhaltenstherapie). In meinem Gastbeitrag zeige ich Dir einen Einblick in meinen normalen Alltag als Psychotherapeut. Hier geht es zu meiner eigenen Homepage.

 

Therapeuten sind auch nur Menschen

Als Psychotherapeut gilt man auf Partys als Sonderling. Dies geht sogar so weit, dass einige Kollegen auf die Frage was sie beruflich machen, mit scheinbar langweiligen Antworten wie „Ich arbeite im Vertrieb“ reagieren. Die Stimmung verändert sich deutlich, wenn man sagt, man arbeite mit psychisch kranken Menschen. Das Spektrum reicht von übertriebener Bewunderung über ehrliche Neugier bis hin zu feindlicher Skepsis. Das Klischee des zigarrerauchenden sonderbaren Bartträgers a la Sigmund Freud hält sich in den Köpfen der Leute und wird zusätzlich durch die Medien verstärkt. Viele sind überrascht, dass sie bei mir auf einen nur zu gut bekannten skandinavischen Sessel platznehmen sollen und sich nicht auf die Couch legen müssen. Dabei hat der Beruf des Psychotherapeuten eigentlich nichts wirklich Geheimnisvolles und ist teilweise deutlich langweiliger, als von vielen vermutet wird. Um ein wenig Klarheit zu schaffen, folgt jetzt ein typischer Arbeitstag von mir. Alle Patienten sind frei erfunden, aber nicht fern von meinem Berufsalltag.

 

9 Uhr: Schreibtischarbeit

Neben den psychotherapeutischen Sitzungen gibt es auch viele ermüdende bürokratische Aufgaben zu erledigen: Es müssen z.B. Anträge an die Krankenkassen und Berichte an Gutachter geschrieben werden. Damit der Wissensstand der Therapeuten nicht abnimmt, ist man zu regelmäßigen Fortbildungen verpflichtet, die man besuchen und auch selber organisieren muss. Bei Bedarf bildet man sich per Literatur weiter. Aber zum Glück besteht der Großteil unserer Arbeit aus der psychotherapeutischen Arbeit mit Patienten.

 

11 Uhr: Vor der Therapie ist nach der Therapie

Dazu kommt natürlich die Vorbereitung auf die eigentlichen Therapiesitzungen, was bedeutet, dass man sich die letzte Sitzungsdokumentation noch einmal durchliest und sich überlegt, was in der nächsten Sitzung stattfinden soll. Gelegentlich werden auch umfangreiche Tests durchgeführt, die natürlich auch ausgewertet werden müssen. Das kostet Zeit, ist aber für eine differenzierte Diagnostik durchaus sinnvoll.

 

13 Uhr: Endlich Patienten

Ich kenne keinen Psychotherapeuten, der jemals ernsthaft über die eigentliche Psychotherapie geklagt hätte. Genau aus diesem Grund haben wir ja den Beruf gewählt: Wir wollen helfen und für die Menschen da sein, die aus welchen Gründen auch immer, nicht in der Lage sind, sich selber zu helfen. Das Schöne ist, dass dies auf so viele unterschiedliche Arten passieren kann. Denn als Psychotherapeut hilft man nicht nur durch Fachwissen, sondern auch durch Empathie, Transparenz und wenn es nötig ist auch Konfrontation. Die wirkliche Herausforderung dabei ist nicht, sich möglichst viel Fachwissen anzueignen. Es geht vielmehr um die richtige Balance zwischen Akzeptanz und Veränderung und zusammen mit dem Patienten herauszufinden, was der Patient eigentlich genau braucht. Der berühmte Psychotherapeut Irvin Yalom bezeichnet seine Patienten und sich als „gemeinsam Reisende“, was meiner Meinung nach den Nagel auf den Kopf trifft. Denn Psychotherapeuten sind keine allwissenden Übermenschen, die den „kranken“ Patienten zeigen müssen, wie das Leben funktioniert und wie man am besten Probleme löst. Durch diese Ansicht steigt nur der Druck für den Patienten (und auch für den Therapeuten) und es wird einem vorgegaukelt, dass es Pauschallösungen für Probleme gäbe, die halt leider nicht einfach zu bewältigen sind.

 

16 Uhr: Krisensitzung

Klara sehe ich sonst eigentlich an einem anderen Wochentag. Sie hatte mich am Tag zuvor per Mail angeschrieben und um einen früheren Termin gebeten. Zum Glück hat jemand seinen Termin abgesagt, so dass sie recht zeitnah bei mir vorstellig werden konnte. Ich kenne Klara seit circa drei Monaten. Sie leidet an einer mittelschweren depressiven Episode, dazu kommen gelegentliche Panikattacken. Als sie gemerkt hat, dass sie ihren Alltag nicht mehr bewältigen kann, ist sie bei mir in der Praxis vorstellig geworden. Am Anfang hatte sie noch Angst, über ihre Suizidgedanken zu sprechen, da sie befürchtete, ich würde sie direkt „in die Klinik stecken“. Mittlerweile weiß sie, dass das nur in Krisenfällen, wenn akute Suizidgefahr besteht, nötig ist. Das ist heute nicht der Fall, trotzdem hat Klara gemerkt, dass es ihr in den letzten Tagen schlechter ging. Wir untersuchen zusammen die Gründe für die Krise, besprechen Strategien für den Notfall und was passieren soll, wenn die Symptome noch schlimmer werden. Am Ende der Sitzung geht es Klara etwas besser und wir vereinbaren einen neuen Termin für die kommenden Tage.

 

18 Uhr: Therapeuten unter sich

Normalerweise habe ich fast schon Feierabend um diese Uhrzeit, jedoch nicht heute. Einmal im Monat findet in meiner Praxis eine sogenannte Intervision statt. Dabei treffen sich mehrere Therapeuten und beraten sich gegenseitig. Es werden Behandlungsmethoden und Erfahrungsberichte ausgetauscht und es wird (anonymisiert) über Patienten gesprochen. Das dient dazu seinen „therapeutischen Horizont“ zu erweitern, aber hilft einem Therapeuten auch bei der Verarbeitung der erlebten Sachen. In der Psychologie gibt es dafür den wunderbaren Ausdruck „Psychohygiene“. Der Beruf des Psychotherapeuten ist nicht einfach und nicht immer schafft man es, die Arbeit nach dem Feierabend hinter sich zu lassen. Wenn man seine Erfahrungen mit Anderen teilt und Feedback erhält, fällt es aber deutlich leichter. Drei Stunden später sitze ich im Auto, auf dem Weg in den wohlverdienten Feierabend.

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