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Gegenwart – Dankbarkeit – Liebe: Ein Text zum Jahresende

Bild: Aziz Acharki via unsplash

Gegenwart – Dankbarkeit – Liebe

Simon Gall kennt psychische Erkrankungen seit seiner Jugend. Um seine Krankheit zu besiegen, wanderte er 1.300 km nach Rom – hier findet ihr den Blogbeitrag, in dem er ausführlich von dieser Erfahrung berichtet. Seitdem ist viel passiert – inzwischen hat er die Selbsthilfegruppe „Amor Fati“ gegründet, um sich und anderen zu helfen. Darüber erfahrt ihr hier mehr. In seinem dritten Artikel für Freunde fürs Leben lädt er zu einem persönlichen, inspirierenden Jahresrückblick ein, im Zeichen von Gegenwart, Dankbarkeit und Liebe.

Das Leben passiert.

Und es ist gut so. Jeden Tag werden wir mit neuen Herausforderungen konfrontiert und die Qualität unseres Lebens hängt davon ab, wie wir uns diesen Stellen und, ob wir bereit sind die Veränderungen in unser Leben zu lassen. 

Der Jahreswechsel bietet jedes Jahr einen Anlass, um in sich zu gehen und das Jahr Revue passieren zu lassen. Und es ist viel passiert. Zahlreiche positive Erlebnisse waren dabei; und manche, die nicht so schön waren. Aber das ist normal. Getreu dem Motto: 

„Amor Fati – Liebe dein Schicksal.“

Es geht darum seinen eigenen Weg zu akzeptieren, mehr noch, zu lieben, wie er kommt. Ganz egal, wie matschig und unwegsam er manchmal sein mag. Dieser Weg ist uns gegeben. Und es ist unsere Aufgabe uns damit auseinanderzusetzen und daran zu wachsen. Jeden Tag ein kleines bisschen. Schritt für Schritt. Dabei geht es nicht um Perfektion oder das Erreichen eines finalen Endziels. Denn dieses erreicht man erst mit dem letzten Atemzug.

Der Spruch ist alt und wahrscheinlich zu inflationär genutzt, aber er könnte nicht wahrer sein: 

„Der Weg ist das Ziel.“

Es geht ums Gehen; es geht darum in Bewegung zu bleiben, zu lernen und zu sich zu finden. Ein aktueller Bestseller heißt: „Das Kind in dir muss Heimat finden“ – und das ist korrekt. Aber auch nur der erste Schritt. Wir alle sehnen uns nach Heimat. Es ist ein Ziel, das es wert ist, sich den eigenen Schatten zu stellen, um dorthin zu gelangen. Es geht darum in sich selbst zu Hause zu sein, im Frieden. Jede Emotion, jeder Gedanke – alles hat seine Daseinsberechtigung. Denn sie sind Teil von uns und wollen gesehen werden. In dem Moment, in dem wir versuchen uns davor zu verschließen – oft aus einem vermeintlichen Selbstschutzmechanismus – laden wir unsere inneren Feinde zu einem Festschmaus ein. Erst, wenn wir uns, unsere Emotionen, unsere Gedanken, unsere Vergangenheit akzeptieren und als das betrachten, was sie sind, haben wir eine Chance, die Augen zu schließen und das Gefühl zu verspüren angekommen zu sein. 

Ich habe dieses Jahr die ganze Bandbreite meines emotionalen Daseins erleben dürfen. Im Prozess sind mir drei Säulen besonders wichtig geworden. Es gibt so viele andere – aber für mich hat sich der Fokus auf diese drei Säulen als besonders hilfreich, lehrreich, schmerzlindernd, glücksfördernd und wegweisend herausgestellt. 

Gegenwart 

Ach, wie schön es sein kann. Der Gedanke an schöne erlebte Momente. Man denkt an den letzten Urlaub und spürt den Sand unter den Füßen. Man denkt an ein Erlebnis mit einer geliebten Person und es wird warm ums Herz. Aber wo Sonne, dort auch Regen. Und die Vergangenheit hat natürlich auch ihre Schattenseiten. Niemand lebt ein Leben ganz ohne Schmerz. Und der sitzt oft tief. Ein Holz-Splitter, tief unter der Haut. Manchmal vergisst man ihn – dann macht man eine falsche Bewegung und wird schmerzlich daran erinnert, dass es dort noch etwas gibt, das einen beschäftigt, ohne Ablaufdatum. Das Erlebnis oder das vergangene Gefühl kann auch zehn Jahre alt sein. Oder 20. Verdrängt, nie richtig bearbeitet, neigt es dazu uns immer wieder in den Hintern zu beißen. 

Ähnlich verhält es sich auch mit der Zukunft. Begleitet von Hoffnung und Vorfreude kann der Gedanke an die Zukunft ein großartiger und kraftspendender sein. Und er ist wichtig. Zuversicht trägt uns auch durch Momente des Schmerzes und des Leidens. 

Doch kennen Personen mit einer blühenden Fantasie die Problematik gut genug. Es gibt eine Milliarde Möglichkeiten was passieren könnte, es gibt unzählige Handlungsstränge und wissen tut man es immer erst, wenn es so weit ist. Hinterher ist man immer schlauer. 

So positiv der Gedanke an die Zukunft auch sein kann, so sehr ist er trügerisch. Und mir persönlich hat er schon mehr als einmal ein Bein gestellt. 

Ganz egal, was passiert. 

Die einzige Zeit, in der wir leben ist jetzt. 

Die Gegenwart hält alles für uns bereit, was wir in dem Moment brauchen.

Man blockiert sich nur selbst, wenn man zwischen der Vergangenheit und der Zukunft hin und her springt und in der Zwischenzeit ganz vergisst was im Jetzt ist. Was man jetzt fühlt. 

Ich bin noch lange nicht am Ziel. Aber seit mir diese Erkenntnis am eigenen Leib bewusst geworden ist, gelingt es mir jeden Tag ein bisschen besser mich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Auf das HIER und JETZT. Es sorgt für Leichtigkeit, es sorgt für besseren Fokus und es sorgt dafür einen besseren Zugang zu seinem Inneren zu bekommen. 

Nur in der Gegenwart können wir ernsthaft Einfluss nehmen. 

Die Vergangenheit ist rum, und die Zukunft hält so viele Alternativen bereit, dass es überhaupt nicht möglich ist, alle auf einmal zu verarbeiten. Und deshalb kann es befreiend wirken, sich immer wieder zurückzuholen. Man kann auf den eigenen Atem achten oder einfach einmal genau hinhören, welche Geräusche man um sich herum wahrnehmen kann. So bleibt zu sagen, dass sich die Lösung eines Problems sehr oft in der Art und Weise befindet, wie man ihm in der Gegenwart begegnet. 

Dankbarkeit 

Die einen Glauben an Schicksal, die anderen sagen, dass alles komplett willkürlich passiert. Ich war mir bis vor kurzem nicht sicher. Aber nun … Ich bin mir sicher: Alles passiert aus einem Grund. Eine gute Freundin und Schwester im Herzen sagt immer wieder:

„Wir bekommen nicht das, was wir wollen, sondern das, was wir brauchen.“

Sie hat recht. Ach, wie weh das Leben einem tun kann. Und was manchmal auch für Scheiße passiert. Krankheit, Tod, Trennung, Jobverlust. Das Leben stellt uns immer wieder vor neue Aufgaben. Und diese wirken meist ungerecht. Man stellt sich immer und immer wieder die Frage: „Warum?“, ohne je eine Antwort zu finden. Denn in dieser Zeit möchte man einfach nur schreien, weinen, Wände einreißen. Doch wie so oft öffnet sich ein Fenster, wo sich eine Türe schließt. 

Es ist und bleibt eine Sache der inneren Einstellung. Es geht darum die eigene Situation anzuerkennen, ihr den Raum zu geben, den sie benötigt. Ohne sich im Dreck zu suhlen. 

Es geht darum in die Dankbarkeit zu gehen. Jeder Mensch und jede Situation dient uns auf ihre Weise. Lektionen, die einem in der Zukunft helfen können, mit neuen Situationen anders umzugehen. Das schmälert nicht den Schmerz. Zumindest nicht sofort. Aber es ist eine Möglichkeit sich bewusst zu machen, dass es immer weitergeht.

Dankbarkeit ist so wichtig. Und es komplett irrelevant, wofür man dankbar ist. Dankbar für einen guten Freund oder eine gute Freundin, dankbar für die eigene Familie, dankbar für eine Begegnung mit einem Fremden, dankbar für ein gutes Essen oder dankbar, dass der Sonnenstrahl uns in dem Moment genau an der richtigen Stelle getroffen hat. Dankbar für eine Beziehung, dankbar für das Ende dieser oder dankbar für die Erkenntnisse, die man daraus gezogen hat. 

Jedes Mal, wenn ich in meinem Leben eine Talsohle durchschritten habe, folgten im Anschluss die größten Fortschritte in meiner persönlichen Weiterentwicklung.  Und auch dafür bin ich dankbar. Wir wachsen an unseren Aufgaben. 

Viele Menschen neigen dazu, sich dieser Möglichkeit zu verschließen. Sie nehmen ein schlimmes Ereignis oder eine schlimme Phase im Leben als Anlass, die dadurch entstandenen Schäden und die dabei empfundenen Emotionen hinter meterdickem Stahlbeton zu verstecken. Frei nach dem Motto: „Das wird schon halten, wenn ich jedes Mal noch eine neue Schicht drauf packe.“ Ja und dann? In der Regel finden diese Dinge immer wieder einen Weg ans Tageslicht. Und, wenn sie dann erstmal da sind, sind sie stärker als je zuvor. Sie wieder unter Kontrolle zu bringen, scheint dann ein Ding der Unmöglichkeit. Man wird überschattet von Gefühlen der Scham. Schwarze Löcher, die einen wieder genau dorthin zurückbefördern, wo man eben gerade überhaupt nicht hinwollte. 

Ich bin dieses Jahr auch unter die Räder gekommen. Oft kommt man nicht nur unter die eigenen Räder. Immer wieder kommt es vor, dass man etwas in seinem Gegenüber auslöst, das eine unüberwindbar geglaubte Festung einfallen lässt, wie eine Sandburg. Und dann steht man da und fragt sich, wofür man eigentlich all diese Schutzmechanismen entwickelt hat, wenn sie so leicht zu bröckeln beginnen. Es braucht nur die richtige Person, den richtigen Moment. Ein Satz kann reichen oder eine zusammenhangslose Geste. Wieder steckt man drin, in der Mausefalle.

Aber erst, wenn man sich selbst im Spiegel betrachtet und dorthin blickt, wo es am meisten weh tut, kann man sich aus der misslichen Lage befreien. 

Die Denkfehler und Verhaltensmuster, die ich an den Tag gelegt habe, waren weder gesund noch haben sie meinem Ich entsprochen. Aber ich war gefangen in meiner eigenen Vergangenheit und sie haben dazu beigetragen, dass ich im Prozess eine geliebte Person verloren habe.

Wie dem auch sei. Ich versuche dem Prinzip Dankbarkeit eine noch größere Rolle in meinem Leben einzuräumen. Ich für meinen Teil bin dankbar für die Begegnung, ich bin dankbar für die gemeinsame Zeit und, so komisch es klingt, ich bin dankbar für den Verlust. Denn durch ihn habe ich sehr tief in mich hineinsehen können und hatte die Möglichkeit zu wachsen. 

Die gewonnenen Erkenntnisse waren unbezahlbar. Auf einmal haben sich neue Möglichkeiten in meinem Leben aufgetan. Neue Hobbies wurden gefunden, alte Freundschaften waren auf einmal stärker als je zuvor, neue Bekanntschaften wurden gemacht. Und, wie aus dem nichts, habe ich eine neue Leidenschaft entdeckt, ein wirkliches Herzensprojekt. Und dafür bin ich dankbar. Ist der Schmerz dadurch von heut auf morgen weg? Nein, ganz sicher nicht. Lacht man sich jeden Tag ins Fäustchen, weil man so glücklich ist? Nein, ganz sicher nicht. Aber Wunden heilen, wenn wir und die Dinge vor Augen führen, die wichtig sind im Leben. Wenn wir ein Auge auf das werfen, was uns wirklich weiterbringt in unserer persönlichen Entwicklung. 

Wenn wir dankbar sind: Für Freunde, Familie, die Sonne und den Regen, die Wut, den Frieden, die Liebe.

Denn jeder will am Ende nur lieben und geliebt werden.

Liebe

Der Fokus auf die Gegenwart und das Gefühl der Dankbarkeit sind unglaublich wichtig. Aber auch sie wären vollkommen wertlos ohne die Liebe. 

Denn Liebe ist alles. 

Liebe war, ist und wird immer der Schlüssel zum Glück sein.

Die Liebe hat unzählige Gesichter, aber sie ist es, die uns am Leben hält.  Liebe in der Familie, partnerschaftliche Liebe, freundschaftliche Liebe, Nächstenliebe und nicht zu verachten: Eigenliebe. 

So viele Menschen, mich eingeschlossen, machen sich das Leben so schwer, weil sie so hart mit sich selbst ins Gericht gehen. Man möchte sozialen Normen entsprechen oder hat eine Erwartungshaltung an sich selbst, die schlicht und ergreifend unrealistisch ist. Und so buddeln wir uns selbst ein Loch, laufen geradewegs drauf zu und wundern uns, dass wir auf die Schnauze gefallen sind. 

Egal in welcher Form, Farbe und Ausprägung. Liebe ist es, die alles zusammenhält. Liebe ist es, die uns lachen lässt, Liebe kann uns weinen lassen, Liebe lässt uns vergeben, Liebe lässt uns fliegen, Liebe kann der Spiegel zur eigenen inneren Welt sein. 

Ja, Liebe ist kann auch ein einsames Geschäft sein. Liebe kann ein fressendes Gefühl sein, obwohl es doch nähren sollte. Liebe kann so weh tun. Doch Liebe ist es auch, die am Ende der heilende Balsam auf der brennenden Wunde ist. 

Mein ganzes Leben komme ich immer wieder an einen Punkt, an dem ich mit mir selbst hadere. Ich hadere damit so emotional zu sein. Alles mit einer Tiefe und in einer Intensität zu fühlen und spüren, dass es mich schier zerreißt. Und dann denke ich, ich möchte anders sein.
Ich wäre so gern nicht so anfällig für die Atombomben des emotionalen Seins eines Menschen.

Doch früher oder später bin ich bisher immer zu dem Ergebnis gekommen, dass ich das eigentlich gar nicht möchte. So sehr es auch weh tun mag. Es ist das größte Geschenk meines Daseins, so empfinden und so lieben zu können. Mit meinem ganzen Herzen, mit allem was ich habe. Freunde, Familie, Partnerin. Ich liebe. Ich liebe und es ist gut so. 

Meine Emotionen sind ein Teil von mir. Und Liebe ist das wohl schönste Gefühl im endlosen Potpourri des eigenen Innenlebens.

Liebe gewinnt immer. 

Ich liebe meine Familie. Ich liebe meine Freunde. 

Ich liebe die Vergangenheit und die Dinge, die mir widerfahren sind. Die Guten und auch die Schlechten. 

Ich liebe mein Leben. Und am Ende bleibt nur eins: In der GEGENWART bin ich DANKBAR, dass ich LIEBE!

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