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Phil-osophie am Freitag

Heute ist Freitag. Das ist grundsätzlich schonmal ein gute Sache!

Heute möchte mal ganz unglaublich tief in die intellektuelle Schatzkiste greifen:
Kennen Sie (vielleicht irgendwo in der hintersten Ecke des Gehirns verborgen) noch Goethes Gedicht „das Göttliche?“ Furchtbar übermoralisch beginnt es mit dem Satz „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!“. Das war dem lieben Johann Wolfgang so wichtig, dass er sogar ein Ausrufezeichen dahinter gesetzt hat. Donnerwetter!

Sollten Sie mein Büchlein gelesen haben, so wissen Sie bereits, wie ich über allgemeine moralische Richtlinien denke. Aber es gibt tatsächlich einen ganz famosen Teil des Gedichtes, der uns helfen kann, ein paar Dinge zu verstehen. Ganz und gar nicht so, wie Goethe es meinte, aber doch sinnvoll: Er schreibt: „Nur allein der Mensch vermag das Unmögliche: Er unterscheidet, wählet und richtet; Er kann dem Augenblick Dauer verleihen.“
Ha! Da haben wirs doch wieder. Was bedeutet das konkret? Konkret bedeutet das: es liegt in unserer Hand, „dem Augenblick Dauer zu verleihen“. Oder übersetzt in eine etwas einfachere Aussage: Jeder entscheidet selber, ob dieser Augenblick – oder zumindest das zu ihm gehörende Gefühl – anhält oder aufhört. Und wir tun das den ganzen Tag! Und die meisten von uns sind ziemlich erfolgreich darin – wenn auch blöderweise in der falschen Richtung. Auch auf die Gefahr hin, dass sich Herr Goethe, die Literaturwissenschaftler der Republik und mein ehemaliger Deutschlehrer in ihren imaginierten Gräbern umdrehen, weil ich einfach mal ein Meisterwerk der deutschen Klassik umdeute, will ich diesen Gedanken mal kurz weiter aufrollen:
Nehmen wir mal an, Sie haben bei einem Projekt versagt, eine schlechte Arbeit geschrieben oder sind mal wieder bei einem begehrten Partner abgeblitzt. Das ist Mist. Was aber tun wir meistens? Wir verleihen diesem Augenblick Dauer. Und zwar indem wir uns darüber ärgern. Und zwar deutlich länger, als die eigentliche Situation anhält. Und dann komische Schlüsse ziehen: „das kann ich nicht“, „ich bin nicht hübsch/klug/intelligent genug“, „jetzt muss ich mich beim nächsten Versuch doppelt anstrengen“. Und wenn dieselbe oder eine ähnliche Situation das nächste Mal auftaucht, haben wir das Gefühl schon vorher parat. Es fühlt sich schon im Moment des Beginns so an, als sei das schlechte Ende schon eingetreten. Ganz anders verhält es sich bei positiven Situationen. Diese werden meistens tatsächlich nur in dem Moment wahrgenommen.
Glauben Sie nicht? Wann haben sie sich das letzte Mal genauso lange über etwas Geglücktes gefreut, wie Sie sich über etwas Schlechtes geärgert haben? Oft geschieht sogar das Gegenteil: Ein gutes Abschneiden lässt uns Druck verspüren, dieselbe Performance nochmal mindestens genauso gut hinzulegen.
Unabhängig davon, dass sie damit – rein juristisch gesehen – Ihr Glück diskriminieren, ist es ausgesprochen unklug. Sie betrügen sich nämlich selbst um gute Zeiten!

Nun soll der Schluss nicht sein, dass es klug wäre, von nun an jeden Misserfolg mit einem Schulterzucken abzutun. Ich möchte nur – politisch ganz dem Zeitgeist entsprechend – für eine „Umfairteilung“ des Gefühls plädieren. Und zwar ganz unpopulär – von „unten“ nach „oben“. Räumen Sie sich doch dieses Wochenende mal ganz bewusst Zeit dafür ein, sich über Ihre Erfolge der letzten Wochen zu freuen. Und zwar genauso lange und so intensiv, wie Sie sich über die Misserfolge geärgert haben. Ist ganz schön schwierig. Geht aber! Glück ist nur dann schön, wenn man es zulässt. Meistens ist man aber so konzentriert darauf, sich auf die weniger schönen Dinge zu konzentrieren, dass es so scheint, als gäbe es kein (schönes) Morgen.

Edith Piaf, die ja nun wirklich einiges erlebt hat, schrieb dazu „Das Leben ist wundervoll. Es gibt Augenblicke, da möchte man sterben. Aber dann geschieht etwas Neues, und man glaubt, man sei im Himmel.“ Das Neue kann aber nur durchkommen, wenn man seinen Geist, sein Herz und sein Bauchgefühl nicht ewig mit einem Misserfolg aus der Vergangenheit besetzt hält.

Vor einigen Jahren habe ich daher beschlossen, ein Dilettant zu sein. Und zwar in möglichst Allem, was ich tue. Nun mögen Sie denken: „ein Dilettant? Ist das nicht was Schlechtes?“ In den Augen derer, die sich selbst, ihr Tun und ihre eigene Bedeutung als unglaublich hoch einschätzen vielleicht. „Dilettant“ kommt aus dem italienischen „dilettare“, was wiederum vom lateinischen „delectare“ kommt (da ist sie wieder, die intelektuelle Schatzkiste). Es bedeutet, „sich erfreuen“. Der Dilettant tut etwas, um der Sache selbst willen, sozusagen aus Liebe zum Spiel. Und dass man nicht aufgeben sollte, nur weil es 4:0 gegen einen steht, haben wir in der letzten Woche beim Fußball lernen können! Leben Sie also, um zu Leben. Nicht um sich über verpasste Chancen zu ärgern. Die nächste Chance kommt bestimmt. Sie hat ein Recht darauf, Sie kennenzulernen. Unvoreingenommen.

Ein sauschönes Wochenende wünscht

Dr. Phil

 

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Unser Kolumnist Dr. Phil ist auch bekannt als Autor Philipp S. Holstein und hat das Buch “Glücklich werden ohne Ratgeber. Ein Ratgeber” geschrieben.

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